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Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Titel: Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Biermann , Martin Haase
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Es geht um Netzneutralität, darum also, dass bislang im Internet alle Daten gleich sind, keine dürfen schneller (oder langsamer) befördert werden als andere. Firmen wie die Telekom, denen die Leitungen gehören, finden das doof, könnten sie doch mit Beschränkungen noch viel mehr Geld verdienen. Man kann diese Beschränkungen mit Zollschranken vergleichen – vielleicht sogar mit Wegelagerei. Denn die Anbieter wollen bestimmte Inhalte schneller befördern als andere – gegen Geld, versteht sich. Als plakatives Beispiel werden dann gern Daten aus einem Operationssaal genannt. Doch so funktioniert das Netz nicht. Kunden, die sich eine DSL-6000-Leitung mieten, erhalten (wenn sie Glück haben) alle Daten mit einer Rate von sechs Megabit pro Sekunde. Schneller geht es nicht, langsamer schon. Qualitätsklassen also meint, dass einige Inhalte, für die Anbieter viel Geld bezahlt haben, weiter mit der bislang für alle verfügbaren Geschwindigkeit zum Kunden gelangen. Der Rest wird gebremst und somit langsamer. Qualität im klassischen Verständnis von Güte sieht anders aus.

Quellen-Telekommunikationsüberwachung
    Kommunikation heißt, dass ein Sender (Quelle) Informationen an einen Empfänger (Ziel) übermittelt. Wir haben uns leider längst daran gewöhnt, dass es zum Arsenal kriminalistischer Methoden gehört, Kommunikation zu überwachen, obwohl dabei oft auch Privates belauscht wird. Durch Computer vermittelte Kommunikation abzuhören, ist dabei sogar noch leichter. Es müssen gar keine Wanzen mehr eingebaut werden, die Computer selbst werden zur Wanze, siehe die Quellen-Telekommunikationsüberwachung , gern als Quellen-TKÜ abgekürzt. Sie nutzt die einzigartige Möglichkeit der Computertechnik, an der Quelle mitzulesen. Genau dann also, wenn die Telekommunikation noch gar nicht begonnen hat. Quellen-Telekommunikationsüberwachung ist somit ein Oxymoron, denn gelauscht wird, bevor die Daten den Empfänger erreichen. Es liegt also noch gar keine Kommunikation vor. Gleichzeitig ist der Begriff ein Euphemismus für Überwachung, noch dazu für eine heimtückische Form. Bei zwischenmenschlicher Kommunikation ist die Quelle ein Mensch. Dieser Mensch wird hier von seinem Computer bespitzelt, von einem System, von dem das Bundesverfassungsgericht sagt, dass wir ihm vertrauen können müssen. Der Terminus technicus täuscht somit darüber hinweg, dass der Staat die Technik in unseren Händen gegen uns wendet. Gleichzeitig sind Computer nicht nur Mittel der Kommunikation und Übermittler von Daten. Sie sind auch der Ort, an dem unsere Gedanken zu Informationen gerinnen, der Ort, an dem aus unseren Visionen Pläne werden. Sie gelten deswegen inzwischen als Erweiterung unseres Gehirns. Damit aber gehört die Quellen-Telekommunikationsüberwachung in die Waffenkammer einer Gedankenpolizei.

R
    radikal
    Adjektiv zum lateinischen Substantiv radix , »Wurzel«. Die enthaltene Metapher »an der Wurzel« bedeutet, dass ein Vorschlag ein Problem grundsätzlich lösen will, statt nur die Symptome zu behandeln. Extreme Mittel sind dazu ursprünglich nicht vorgesehen. In die Politik gelangte das Wort, wie so viele, durch die Französische Revolution. Nach deren Ende nämlich forderte die »Partei der radikalen Erneuerer« einen grundsätzlichen Umbau der Gesellschaft und vor allem die Abschaffung der Monarchie und die Gründung einer Republik mit allgemeinem Wahlrecht. Daraus entstand in Großbritannien der Radikalismus, eine (links-)liberale Bewegung, die ebenfalls für eine Abschaffung adeliger Privilegien und ein allgemeines Wahlrecht kämpfte. Sie wollte das sogar für alle Bürger, ohne Ansehen des Standes, wenn auch zunächst nur für die Männer. Das Ziel des Radikalismus also war eine positive Utopie, weshalb radikal grundsätzlich eine positive Konnotation bekam. Bis heute ist der Radikalismus in Ländern wie beispielsweise Italien eine angesehene bürgerliche, links-liberale Bewegung. In Deutschland hingegen wird das Attribut radikal nur Terroristen und Mördern zugeschrieben. Denn im deutschen Sprachraum ging dieser positive Wortsinn verloren. Hier steht man jenen, die gesellschaftliche Veränderungen wünschen, grundsätzlich ablehnend gegenüber, daher ist das Wort vor allem negativ konnotiert. Schließlich wurde radikal synonym mit Adjektiven wie »umstürzlerisch« und »extremistisch«, obwohl es wie gesagt mit politischen Mitteln wie Gewalt nichts zu tun hat. Nicht nur ein Euphemismus, sondern völlig deplatziert

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