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Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Titel: Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Biermann , Martin Haase
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ist eine beliebte Frage, nicht nur in Beziehungen. Da der Gesetzgeber in seiner allseits fürsorglichen Art nicht mit den Schultern zucken mag, wenn sich diese wieder einmal nicht beantworten lässt, hat er sich einen Trick ausgedacht. Der Trick heißt Störerhaftung und bedeutet: Wenn wir den wahren →   Störer nicht kriegen, nehmen wir eben den Nächstbesten. Wenn also Fremde mit der eigenen Netzverbindung Unsinn anstellen und anschließend nicht zu ermitteln sind, ist der Besitzer schuld. Denn man ist, so die nur für Juristen logische Logik, auch für die Folgen eines Dingsbums verantwortlich, wenn man gar nicht dabei war. Es genügt, »verfügungsbefugt« gewesen zu sein. Da steckt zweimal »fug« drin, das kann also gar kein Unfug sein. Neu ist das nicht. Die Störerhaftung entspricht der bei Armeen beliebten Idee des »Kameradendiebstahls«: Wer seinen Spind nicht abschließt, verleitet Kameraden dazu, ihn auszuräumen, und wird somit genauso hart bestraft wie der Dieb. Bei Sturmgewehren (auch ein schönes Wort), ist das vielleicht noch zu verstehen. Aber warum ein drahtloses Netzwerk aka WLAN so riskant sein soll, dass unbedingt immer irgendwer dafür haftbar gemacht werden muss, ist uns nicht so ganz klar. Und wie sieht das beispielsweise mit Kindern aus? Kann man für die auch lebenslang in Störerhaftung genommen werden? Immerhin hat man durch eine, wie es zur Begründung der Störerhaftung heißt, »eigenständige Handlung«, hier die Zeugung, die Beeinträchtigung bewirkt. Sollte man Kinder also auch besser wegsperren?

Stresstest
    Das Wort »Stress« hat schon viel erlebt: Auf der Basis des lateinischen stringere , das »drücken, umklammern« heißt, und seiner volkssprachlichen Substantivableitung strictia entstand im Altprovenzalischen das poetische Wort destressa . Es bezeichnete das Gefühl des Leidens und des Kummers, insbesondere in Angelegenheiten unerfüllter Liebe. Über das altfranzösische destresse , das es in der Form détresse (»Notlage«, »Kummer«) im Französischen immer noch gibt, gelangte es in der kürzeren Version stress ins Englische. Dort fanden es Anfang des 20. Jahrhunderts Psychologen und nutzten es, um den Zustand zu beschreiben, der heute auch in der Umgangssprache als Stress bezeichnet wird (im Englischen auch als Verb to stress verwendbar) – übrigens vor allem im germanischen Sprachraum: Ein Italiener würde nicht von sich sagen, er sei gestresst (als Lehnwort stressato ), sondern sich als müde oder erschöpft bezeichnen ( stancato ). Briten und Deutsche hingegen scheuen die Müdigkeit, sind stattdessen lieber »im Stress« und drücken damit aus, dass sie weiter aktiv sind, so schlecht es ihnen dabei auch gehen mag. Die Wirtschaft, die ja immer auf der Suche nach Wunderworten ist, um Menschen über den wahren Sinn einer Ware zu täuschen (vgl. →   Biosprit oder →   just in time ), hat sich des Begriffes sicher gern angenommen. Und so stehen nun plötzlich ganze →   Märkte unter Stress, oder es wird gar vorgeschlagen, Banken einem Stresstest zu unterziehen. Das soll Vertrauen in die zu testenden Institutionen wecken, denn es spielt mit der Assoziation, dort werde unter ärztlicher Aufsicht und unter Einhaltung diverser Vorsichtsmaßnahmen ausprobiert, wie belastbar ein System ist. Damit aber wird das, was in der Medizin lediglich ein Verfahren zur Diagnose ist, von Wirtschaft und Politik als Heilmittel verkauft. Der Stresstest soll nicht nur einen Befund erbringen und zeigen, welche Bank einer Belastung standhält. Er soll zugleich das Medikament sein, um die nervösen →   Märkte zu beruhigen. So als sei das Fieberthermometer im Mund schon die Behandlung. So viel Hoffnung setzt die Politik in dieses Instrument, dass sie sogar versucht, damit marode Atomkraftwerke zu therapieren. Schon bei Menschen ist es keine gute Idee, sie absichtlich unter Druck zu setzen, denn es ist nie klar, wie sie wirklich reagieren und ob bereits geschwächte Patienten beim Stresstest nicht gänzlich zusammenbrechen. Bei Atomkraftwerken kann das Ganze zur Katastrophe führen, wie der 1986 in Tschernobyl durchgeführte Belastungstest eindrücklich gezeigt hat. Daher ist der schon für Finanzen unangemessene Begriff für Atomkraftwerke völlig heuchlerisch. Wer ihn nutzt, will lediglich seine →   Handlungsfähigkeit demonstrieren und suggerieren, die Technik sei beherrschbar und sicher. Ist sie aber nicht. Anderen weiszumachen, ein riskantes System werde allein dadurch

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