Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
verwenden solche sprachlichen Stanzen dauernd, weil sie irgendwie griffig klingen, ohne etwas Eindeutiges auszudrücken.
Die Beispiele zeigen, worum es geht: Politik ist ein steter Kampf um Aufmerksamkeit und daher Übertreibung. Schlichte Argumente schüren die Angst, nicht gehört zu werden. Doch nur wer gehört, befragt, zitiert wird, ist ein guter Politiker. Denn dieser seltsame Beruf macht es schwer, sich zu vergleichen. Eine der wenigen Möglichkeiten sind die Medien und der Widerhall, den die eigenen Worte dort finden. Was auch dazu führt, dass Politiker viel reden, ohne dass sie etwas zu sagen haben. Hier ein beispielhaftes Zitat aus der Regierungserklärung von Außenminister Guido Westerwelle 2011:
»Nichts ist einfach in Afghanistan, und vieles ist noch nicht so, wie es sein soll. Ich fürchte, vieles wird auch schwierig bleiben. Aber am Ende dieses Jahres, nach der Bonner Konferenz, bin ich überzeugt: Wir sind mit unserem Einsatz und mit der neuen Partnerschaft auf dem richtigen Weg. Wir eröffnen Afghanistan die Chance auf eine friedliche und freie Zukunft – im Interesse der Menschen dort und im Interesse der Sicherheit hier.«
Viele Floskeln, aber was hat der Mann gesagt? Irgendwer ist mit irgendetwas auf irgendeinem Weg und soll auf diesem irgendwelche Schwierigkeiten irgendwie beseitigen. Der Wunsch, sich in den Medien mit dem erwünschten Image wiederzufinden, verleitet immer wieder zu sprachlichem Murks. Von diesem soll im Folgenden noch mehr die Rede sein.
Unpassende Bilder
Die Königsdisziplin der politischen Rhetorik ist das uneigentliche Sprechen, also das Reden in Bildern, sogenannten Metaphern. Eigentlich dienen Metaphern als Gleichnisse, die zum Verständnis eines Sachverhalts beitragen sollen. Wie oben gezeigt, lassen sich Zusammenhänge mit ihnen aber wunderbar übertreiben oder verharmlosen. Doch können sie auch dazu verwendet werden, den eigentlichen Sinn zu vernebeln oder ganz zu verstecken.
Wenn man den sogenannten Europäischen Stabilitätsmechanismus als »Hebel« bezeichnet, kann sich vielleicht jemand darunter vorstellen, dass irgendetwas verstärkt werden soll. Verstehen wird er das Konstrukt deshalb nicht. Wird der gleiche Plan als → Rettungsschirm oder als »Brandmauer« gegen einen Flächenbrand im Euroraum verkauft, klingt das noch viel griffiger und vor allem notwendiger. Dabei wird mit diesen Umschreibungen nichts darüber gesagt, wie der Mechanismus (auch das ist schon eine Metapher) wirklich funktioniert und welche Folgen er für den gemeinen Bürger hat.
Wie andere sprachliche Kniffe haben auch Metaphern so ihre Tücken. Sie können zum Beispiel nicht zusammenpassen. Wie die → vorübergehende Wachstumsdelle im Wirtschaftswachstum: Bei einer Delle denkt man an einen leichten Blechschaden am Auto. Nur geht der nicht von selbst vorüber, er muss repariert werden. Mindestens ebenso schön ist der → V-Mann , auch »Vertrauensperson« genannt, als Umschreibung für einen Spitzel. Dem sollte eigentlich besser nicht vertraut werden, da er in erster Linie ein Krimineller ist.
Tückische Mehrzahl
Schief gehen kann beim Sprechen viel. Die deutsche Sprache verbirgt beispielsweise in ihrer Mehrzahl eine Tücke, die Politiker gelegentlich übersehen und dabei, wie so oft, mehr über sich und ihre Motive verraten, als sie wollen. Denn wenn Wörter in den Plural gesetzt werden, verändern sie bisweilen ihre Bedeutung. Das gilt besonders für Handlungssubstantive, die eine Handlung bezeichnen, die eigentlich gar nicht pluralisierbar ist. So leitet sich von zwingen der Zwang ab. Im Plural ändert sich allerdings diese Bedeutung. Unter Zwängen versteht man gesellschaftliche Konventionen, aber keinen direkten Zwang mehr. Somit sind → parlamentarische Zwänge selbst gewähltes Leid.
In die Nähe des Oxymorons rückt der Plural bei → bedauerlichen Einzelfällen . Ein Einzelfall ist schließlich ein singuläres Ereignis, deswegen heißt er so. Selbst wenn sich die Bedeutung nicht vollständig ändert, schwächt der Plural die Wirkung des Wortes: So klingen → Fahrzeitverlängerungen bei der Bahn viel schwächer als der Singular oder gar das Wort Verspätung , das von der Bahn auch gern im Plural verwendet wird. Der Reisende fühlt sich weniger betroffen, wenn er hört, dass es auf der Strecke zu Verspätungen kommen kann. Auch Preisanpassungen klingen harmloser als der Singular → Preisanpassung . Der Plural von → umstrittene Verhörmethoden
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