Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
unvollendet ist.
Der Taktangeber
Warum gilt Wilhelm Furtwängler
vielen Klassikliebhabern als größter Dirigent
aller Zeiten?
Mein Lehrer Theodor W. Adorno, der seinerseits Furtwängler sehr verehrte, merkte einmal kritisch an: »Furtwängler wäre der größte Dirigent – wenn er zufällig dirigieren könnte.« Furtwänglers Dirigiertechnik war sicherlich anfechtbar. Aber es stimmt nicht, dass er sein Metier nicht wirklich beherrschte, er ließ sich seine Meisterschaft nur nicht anmerken. Für mich persönlich jedenfalls war Wilhelm Furtwängler nicht nur der größte Dirigent, sondern vielleicht sogar der größte Musikinterpret, der je gelebt hat. Ich teile meine Furtwängler-Begeisterung übrigens mit den Dirigenten Claudio Abbado und Christian Thielemann. Beide bezeichnen Wilhelm Furtwängler als ihr großes Vorbild.
Meine Bewunderung für Furtwänglers Kunst empfinde ich beim Hören alter Aufnahmen heute noch so wie beim ersten Mal. Immer ging es ihm um das Ganze, um eine große Inspiration. Darin war er ungeheuerlich. Er hatte es nicht nötig, lauter kleine, hübsche, expressive Wirkungen zu erzeugen. In manchen Takten blieb er verhältnismäßig ausdruckslos. Aber seine Ausdruckslosigkeit war ausdrucksvoller als viele Espressivi, mit denen sich andere überschlagen. Er ließ zum Beispiel das Es-Dur-Thema der Vierten Symphonie von Beethoven vollkommen still und gleichsam
unspektakulär erklingen und verlegte den Ausdruck in die Zwischenspiele. Das wirkt hinreißend und macht das Thema erst richtig spannend.
Das Drama seines Lebens war, dass er gegen Ende schwerhörig wurde. Ernst von Siemens und andere Furtwängler-Verehrer wollten ihm helfen und ließen ein für damalige Verhältnisse sündhaft teures Hörgerät anfertigen. Furtwängler aber, der eine tiefe Abneigung gegenüber allem Technischen besaß, warf das teure Gerät voller Wut und unter Tränen auf den Boden und zertrümmerte es. Künstlich hören, das war für einen Klangfanatiker wie ihn undenkbar.
Als Herbert von Karajan mir berichtete, er wolle ein Buch über Dirigenten schreiben, fragte ich ihn: »Was würden Sie über Furtwängler sagen?« Ich wusste, dass die beiden ein gespanntes Verhältnis zueinander hatten. Karajan antwortete: »Ich würde schreiben: Furtwänglers Zögern war so wichtig und so toll.« Ich weiß, was Karajan damit meinte. Furtwängler war wie ein Medium, einerseits unentschlossen, andererseits seiner Sache ganz sicher. Erst nach langem Warten fing er an zu dirigieren. In Mailand schrie ein junger Italiener »Coraggio Maestro!«, also: »Haben Sie Mut, Maestro, fangen Sie an.« Dieses Warten, diese Unsicherheit ging sozusagen als mediale Größe in seine Kunst ein. Hinzu kam seine seltsame Schlagtechnik. Er hatte zitternde Hände, die er auch noch sehr langsam bewegte. Fragte man die Berliner Philharmoniker – ich kannte den Konzertmeister Thomas Brandis, den Solocellisten
Götz Teutsch und manch anderen recht gut –, woran sie sich für den Einsatz orientierten, sagten sie: »Wir setzten dann ein, wenn er bei dem dritten Knopf seiner Frackweste angekommen war. Oder wenn wir einfach nicht mehr warten konnten.«
Es gibt eine berühmte Anekdote. Die Philharmoniker baten ihn während einer Probe: »Herr Doktor« – diese Anrede ließ er sich merkwürdigerweise gefallen -, »schlagen Sie das doch bitte einmal ganz genau und hart durch, damit wir diese schwierige Stelle üben können.« Wie gewünscht »schlug« er »das durch«, und die Philharmoniker spielten es, und alles klang sehr schön. Dann fragten sie: »Wie hat es Ihnen gefallen?« Furtwängler antwortete: »Überhaupt nicht, es war so scheußlich direkt!« Daran denke ich oft, wenn ich heute in Konzerten sitze, wo alle wunderbar klar schlagen und alles scheußlich direkt klingt.
Vergessen darf man auch nicht, dass Furtwängler vielleicht nie besser war als während der Kriegsjahre. Es gibt Aufnahmen von ihm – Beethovens Neunte Symphonie, gespielt im vorletzten Kriegsjahr 1944, oder eine Aufnahme von Schuberts Großer C - Dur - Symphonie -, die werfen einen vor Bewunderung und Erschrecken um, vorausgesetzt man stört sich nicht an den kratzenden Nebengeräuschen uralter Schallplatten. Während des Krieges, als man nicht wusste, ob man die nächste Nacht überleben wird, steckten in jedem Konzert eine große Dramatik und ein hohes Maß an seelischem Gewicht. Das ist gottlob vorbei, und einen Krieg als existenziellen
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