Sprengkraft
Witwe huschte in den Flur zurück und riss den Hörer von einem Telefonapparat, der auf einem Schränkchen stand. Ein Ding mit Wählscheibe – Veller wusste nicht, wann er so etwas zuletzt gesehen hatte. Miriam Boussoufa kehrte den beiden Beamten den Rücken zu und redete aufgeregt in ihrer Heimatsprache.
Veller und Anna zogen ihre Schuhe aus, die uniformierten Kollegen taten es ihnen nach. Die Wohnung war klein und armselig möbliert. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Veller und einer der Uniformierten nahmen sich das Wohnzimmer vor. Auf einem Sideboard lag ein Laptop, den Veller sofort in die Kiste legte, die er aus dem Auto mitgebracht hatte. Die Bücher und Videokassetten packten sie dazu.
Eine Reproduktion an der Wand zeigte arabische Handschrift, vermutlich einen Koranvers. Veller wusste, dass Kalli-grafie in vielen islamischen Ländern wegen des dort herrschenden Bilderverbots die wichtigste Kunstform war. Er nahm das Ding vom Nagel und zerlegte den Rahmen – keine versteckten Anschlagspläne oder Korrespondenzen.
Vor dem Fernseher stand ein alter, schwerer Heimtrainer.
Die Türklingel schrillte.
Die Witwe öffnete einer weiteren jungen Orientalin, die jedoch westlich gekleidet war. Lange, dunkle Locken, ein breites Gesicht. Enge Jeans und Pulli, üppig aufgetragenes Kajal betonte große Augen. Die beiden Frauen begrüßten sich auf Arabisch. Veller hätte die Worte gern verstanden.
»Wer sind Sie?«, fragte er die Besucherin.
»Halima. Halima Boussoufa. Ich bin Miriams Schwägerin. Said war mein Bruder.«
»Können Sie mir sagen, wie er zu Rafi Diouri und Yassin alias Dennis Scholl stand?«
»Said war ein guter Mensch. Mehr bekommen Sie nicht von mir zu hören.«
»Aber Sie wissen, was passiert ist?«
»Miriam hat meine Eltern verständigt. Und die Nachrichten im Radio sind voll davon.«
»Wie ist Said an den Sprengstoff gekommen?«
»Er hatte damit nichts zu tun. Und ich muss mich beschweren. Heute Morgen haben Sie Miriam ausgefragt, ohne sie über ihre Rechte aufzuklären. Angehörige haben keine Aussagepflicht!«
»Das war nicht ich, sondern meine Kollegen von der Düsseldorfer Polizei.«
»Und Sie sind …?«
»Paul Veller, Landeskriminalamt.«
»Staatsschutz?«
»Sie scheinen sich gut auszukennen.«
»Ich arbeite bei einem Anwalt. Da kriege ich mit, wie sich die Polizei benimmt, wenn sie es mit Migranten zu tun hat.«
»Frau Boussoufa, wir müssen wissen, ob noch weitere Personen hinter der Bombenexplosion stecken. Jemand hat Ihren Bruder verführt. Unsere Ermittlungen richten sich nicht gegen Sie.«
Die Schwester des Toten warf ihrer Schwägerin einen kurzen Blick zu und schwieg. Anna war aus dem Schlafzimmer zurückgekehrt und musterte die beiden Marokkanerinnen.
Veller sagte: »Vielleicht war Said auch nur zufällig am Ort der Explosion. Um das herauszufinden, brauchen wir Ihre Mithilfe.«
»Said war ein guter Mann«, mischte sich Miriam, die Verhüllte, ein und berührte ihren Bauch. »Allah hat ihm einen Platz im Paradies gegeben.«
»Sei still!«, wies Halima sie zurecht. »Wir machen keine Aussage.«
»Wir müssen Sie trotzdem zur Vernehmung vorladen.« Veller verteilte seine Visitenkarten. »Morgen früh um neun melden Sie sich beim Pförtner des Landeskriminalamts. Kann ich mich darauf verlassen oder brauchen Sie das schriftlich?«
Das Telefon klingelte. Die junge Witwe ging ran und redete Arabisch mit dem Anrufer. Worum es in diesem Gespräch ging, würde Veller erfahren. Die Überwachung war geschaltet, der Übersetzer bestellt.
Die Bemerkung der Witwe gab ihm zu denken: Allah hat ihm einen Platz im Paradies gegeben.
Veller winkte Anna in das Wohnzimmer und schaltete Satellitentuner und Fernsehgerät ein. Die Mattscheibe knisterte und wurde hell. Al-Arabia, ein gängiger Nachrichtenkanal. Veller zappte weiter. Es waren ausschließlich arabische Programme eingestellt. Die Fundamentalisten unter ihnen erkannte Veller am Logo – während einer Fortbildung im letzten Sommer hatte er gelernt, welche Organisationen dahinterstanden und welche Botschaft sie verbreiteten: Verschwörungstheorien, Hass und Mordaufrufe. Ein Verbot in Europa half nicht viel. Wurden die Terrorsender von Eutelsat verbannt, so strahlte ArabSat sie weiterhin aus. Mit dem Plazet der Arabischen Liga.
Schweigend betrachteten sie eine Art Talkshow im Programm der libanesischen Hisbollah-Miliz. In tiefen Plüschsesseln kauerten zwei verschüchterte Kinder vor einem Moderator, ein
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