Sprengkraft
Ränder.
»Ist das er? «, fragte jemand ehrfurchtsvoll.
Moritz erkannte, dass es sich um das Stück eines Schädels handelte. Oberhalb des gezackten Rands war ein Einschussloch zu sehen.
Der Gastgeber erklärte: »Dieses Fragment wurde Anfang 1946 bei Grabungen der Roten Armee vor dem Bunker der Reichskanzlei entdeckt, zusammen mit einem Stück vom Kieferknochen. Stalin pflegte beides in seinem Schreibtisch im Kreml aufzubewahren. Wie der ausgestopfte Hund, so diente ihm auch Hitlers Schädel als sichtbares Symbol seines Triumphes über Deutschland.«
»Mein Gott, der Führer«, entfuhr es einer korpulenten Frau, die einen auffällig roten Schal um den Hals geschlungen hatte.
Van Straelen fuhr fort: »Vor neunzehn Jahren habe ich erstmalig von der Existenz des Schädelfragments erfahren. Zum fünfundvierzigsten Jahrestag des Sieges über Deutschland gab es nämlich in Moskau eine Ausstellung, die es neben anderen Memorabilien präsentiert hat. Ich hätte zu gern auch den Kieferknochen erstanden, doch den hat mir leider ein britischer Käufer weggeschnappt.«
Der Hausherr bückte sich nach einem flachen Paket und begann, das Papier zu entfernen. »Dieses Teil ist im Vergleich dazu von geringerer Bedeutung, aber die Bieterschlacht war überraschend heftig.«
Wieder hielten die Gäste den Atem an. Van Straelen packte ein Bild aus. Klein, etwa dreißig mal zwanzig Zentimeter. Ein Aquarell. Moritz trat näher.
Grobe Pinselstriche und verlaufende Farbflächen skizzierten einen Mann mit Hut, Kniebundhosen und hochgekrempelten Hemdsärmeln, der in einer Feuerstelle stocherte. Den Hintergrund bildete eine karge Landschaft, zwei Bäume, fast nur angedeutet – ihre Formen ähnelten der Rauchwolke, die vom Feuer aufstieg. Künstlerisch nicht gerade herausragend, fand Moritz. Doch der Stolz auf die Zeichnung war dem Gastgeber anzusehen.
»Mann mit Rauchstab«, erklärte van Straelen. »Vermutlich von 1911. Signiert mit seinen Initialen. Ein seltenes Bild, denn es unterscheidet sich stilistisch von den Landschaftsbildern und Stadtansichten, die er sonst gemalt hat.«
Die Frau mit dem roten Schal verließ fluchtartig das Zimmer.
Van Straelen blickte irritiert hinterher, dann fuhr er fort: »Letztlich war der Preis überhöht, aber mich hatte das Fieber erwischt. Ich musste dieses Bild einfach haben.«
Zustimmendes Gemurmel, Gratulationen. Van Straelen hängte das Aquarell an einen Wandhaken. Moritz erinnerte sich an die falschen Hitler-Tagebücher, die der Stern in den Achtzigern als Sensation präsentiert hatte.
»Und der Schädel«, fragte er, »haben Sie den auch ersteigert?«
»Nein, Herr Lemke, für solche Stücke gibt es keine Auktion. Da brauchen Sie Beziehungen. Vor einiger Zeit habe ich den damaligen Bundeskanzler auf einer Russlandreise begleitet. Dabei konnte ich gewisse Kanäle nutzen, um mich nach dem Verbleib des Fragments zu erkundigen. Und siehe da, der russische Staat hatte kein Interesse mehr daran. Es hat allerdings einige Zeit gedauert, bis meine Ansprechpartner und ich uns handelseinig wurden.«
Die Frau mit dem Schal kehrte zurück, einen rundlichen Mann mit halbmondförmigen Brillengläsern im Schlepptau, der sofort das Gemälde ansteuerte und sich dann vor van Straelen aufbaute. Moritz kam der Mann bekannt vor.
» Du hast mir also den Hitler weggeschnappt!«
»Nicht doch, Gisbert. Wie konnte ich wissen, dass du mitgesteigert hast?«
Natürlich sind die Bieter anonym aufgetreten, überlegte Moritz. Bei diesem Maler wäre es jedem Käufer peinlich, namentlich bekannt zu werden.
Der Dicke klang immer noch pikiert. »Glückwunsch, Max! Du hast trotzdem einen guten Deal gemacht. Im Original kommen die Farben erst richtig zur Geltung. Und die Pinselführung! Nicht zu fassen, dass die Wiener Akademie diesen Künstler abgelehnt hat!«
Jetzt fiel es Moritz ein: Der Mann war Gisbert Valery, Ingenieur und Betreiber eines Planungsbüros, das den Bau der Düsseldorfer LTU-Arena wie auch der jüngsten Rheinbrücke geleitet hatte. Ein Unternehmer mit Einfluss, der bislang als felsenfester Anhänger der CDU gegolten hatte – dass Valery zu diesem Jour fixe erschienen war, erstaunte Moritz.
Er blickte sich um. Wirtschaftskapitäne und ihre Gattinnen himmelten Nazireliquien an. Medienbosse bekamen leuchtende Augen. Moritz versuchte, es pragmatisch zu sehen. Diese Leute standen für Geld, das die Freiheitlichen für ihren Wahlkampf benötigten.
Du bist Profi.
Eine junge Frau mit
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