Sprengstoff
Millionen von Atemzügen und Millionen von Herzschlägen. Er sah sich um und fragte sich, ob er dabei etwas fühlte. Ein schwacher Anflug von Trauer. Das war alles.
Er räumte seinen Schreibtisch aus. Persönliche Aktennoti-zen und seine persönliche Buchhaltung warf er weg. Dann schrieb er seine Kündigung auf die Rückseite eines vorgedruckten Rechnungsformulars und steckte sie in einen Briefumschlag. Die unpersönlichen Bürosachen ließ er liegen - die Büroklammern, Tesafilm, die dicken Scheckbücher, den Stapel leerer Stechkarten, der mit einem Gummiband zusammengehalten wurde.
Er stand auf, nahm die beiden Zeugnisse von der Wand und warf sie in den Papierkorb. Die Glasplatte vom Rahmen des Collegediploms zersplitterte. Die Rechtecke, über denen die beiden Rahmen über Jahre hinweg gehangen hatten, waren etwas heller als die restliche Wand. Und das war alles.
Das Telefon klingelte, und er nahm den Hörer ab in der Erwartung, Stephan Ordner zu hören. Aber es war Ron, der ihn von unten anrief.
»Bart?«
»Ja?«
»Johnny ist vor einer halben Stunde gestorben. Ich glaube, er hatte von Anfang an keine Chance.«
»Das tut mir sehr leid. Ich möchte, daß du den Laden für den Rest des Tages schließt, Ron.«
Ron seufzte. »Ich glaube auch, das ist das beste. Aber kriegst du dann nicht eine Menge Ärger mit deinen großen Bossen?«
»Ich arbeite nicht mehr für die großen Bosse. Ich habe gerade meine Kündigung unterschrieben.« So, jetzt war es draußen. Das machte es real.
Am anderen Ende herrschte einen Augenblick Schweigen.
Er konnte die Waschmaschinen und das Gezische der Heißmangel hören. Den Würger nannten sie sie immer in Anbetracht dessen, was einem passierte, wenn sie einen erwischte.
»Ich hab’ mich wohl gerade verhört«, sagte Ron. »Es hörte sich so an, als hättest du …«
»Genau das habe ich gesagt, Ron. Ich bin hier mit allem fertig. Es war sehr schön, mit dir und Tom zu arbeiten, und sogar mit Vinnie Mason, wenn er mal sein Maul halten konnte.
Aber nun ist’s vorbei.«
»He, hör mal, Bart, reg dich nicht so auf. Ich weiß, wie sehr dich das alles mitgenommen hat, aber …«
»Es ist nicht wegen Johnny«, unterbrach er ihn, aber er wußte selber nicht, ob das stimmte oder nicht. Vielleicht hätte er tatsächlich noch eine Anstrengung unternommen, sich zu retten. Sich und das Leben, das er die letzten zwanzig Jahre lang unter dem beschützenden Schirm der täglichen Routine geführt hatte. Aber als dieser Priester so rasch an ihm vorbeigelaufen, ja fast gerannt war, um noch rechtzeitig zu dem sterbenden Johnny Walker zu gelangen, der vielleicht schon tot war, als er den hohen, wimmernden Ton von Arnie Walker gehört hatte, da hatte er endgültig aufgegeben.
Wie ein Autofahrer, der einen ins Schleudern geratenen Wagen steuert, oder sich jedenfalls einbildet, ihn zu steuern, und dann plötzlich die Hände vom Lenkrad reißt und das Gesicht darin verbirgt.
»Es ist nicht wegen Johnny«, wiederholte er.
»Bart … hör mal … hör mir zu …« Ron klang sehr aufgeregt-
»Ron, wir sprechen später darüber«, besänftigte er ihn, aber er wußte nicht, ob er das wirklich meinte. »Sorg dafür, daß der Laden dichtgemacht wird!«
»Na gut, aber …«
Er legte behutsam den Hörer auf die Gabel.
Dann holte er das Telefonbuch aus der Schublade und suchte in den Gelben Seiten eine Nummer unter WAFFEN.
Er wählte Harvey’s Waffengeschäft an.
»Hallo,Harvey’s?«
»Hier ist Barton Dawes«, sagte er.
»Ah, ja. Die Patronen sind gestern am späten Nachmittag eingetroffen. Ich hab’ Ihnen ja gesagt, daß ich sie noch lange vor Weihnachten bekommen würde. Zweihundert Schuß Munition.«
»Schön. Hören Sie, ich bin heute nachmittag sehr beschäftigt. Haben Sie heute abend noch auf?«
»Jeden Abend offen bis neun, und zwar noch bis Weihnachten.«
»Sehr gut. Ich versuche, so gegen acht bei Ihnen zu sein.
Wenn nicht, komme ich bestimmt morgen nachmittag vorbei.«
»Ist recht. Sagen Sie, haben Sie herausgefunden, ob es Boca Rio ist?«
»Boca …?« Ach ja, Boca Rio, der Ort, wo sein Cousin bald zur Jagd gehen sollte. »Ja, ich glaube, das war’s, Boca Rio.«
»Oh, wie ich ihn beneide. Es war die schönste Zeit in meinem ganzen Leben.«
»Unsicherer Waffenstillstand hält an«, murmelte er in den Hörer. Er hatte plötzlich eine Vision, wie Johnny Walkers Kopf als Trophäe über Stephan Ordners elektrischem Kaminfeuer hing, und darunter eine blankpolierte
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