Spring in den Himmel
zurückgefahren. Sie verband das Gefühl, etwas ganz Großes erlebt zu haben. Abends hatte Jamina ihre Eltern beim Fernsehen beobachtet. Der Vater, der aufmerksam die politische Entwicklung in seiner Heimat verfolgte, der sich über die Demokratiebewegung in Nordafrika freute, die Mutter, die nebenbei noch in einer Zeitschrift blätterte und nur mit halbem Ohr zuhörte. Zum ersten Mal war Jamina klar geworden, dass diese beiden Menschen sie nie im Stich lassen würden und dass das keine Selbstverständlichkeit war.
Und jetzt, am Tag danach, kam ihr das schon vor wie Schnee von gestern. Der Alltag hatte sie wieder. Sie räumte den Tisch ab, machte die Spülmaschine zu, packte die Essensreste in den Kühlschrank.
Sie wollte noch zu Herrn Kamke. Es war Freitag, da war Alexander nie da.
»Ich muss noch rüber.«
Die Mutter sah sie nachdenklich an.
»Ich finde es sehr nett, wie du dich um Herrn Kamke kümmerst. Aber hast du nicht selbst genug zu tun?«
»Ich mach das gern.«
»Jamina, ich weiß, dass du gerne für andere da bist. Aber du kannst nicht allein die Welt retten.«
»Ich sehe doch nur manchmal nach ihm.«
»Nein, es ist in letzter Zeit deutlich mehr geworden. Meinst du, ich merke das nicht?«
Die Mutter schien sich wirklich Sorgen zu machen. Sie legte den Arm um Jamina, zog sie an sich.
»Er hat zwei erwachsene Kinder und mindestens fünf Enkel. Sollen die sich die Arbeit aufteilen oder eine Pflegekraft engagieren.«
»Er zahlt mir doch etwas dafür. Und es ist viel besser als Zeitungen austragen.«
»Du machst es doch nicht fürs Geld, das weiß ich. So viel ist es nun auch wieder nicht, dass es sich lohnen würde.«
Jamina schwieg und wandte sich ab, um die Mutter nicht ansehen zu müssen.
Denn nachdem Herr Kamke immer öfter und immer mehr Hilfe brauchte, hatte er ihr auch größere Beträge gegeben.
»Alexander und du, ihr sollt euch nicht umsonst mit mir plagen.«
»Ich tue das gern, ehrlich.«
Herr Kamke hatte ihr fünfzig Euro in die Hand gedrückt und geschmunzelt: »Damit du es auch weiterhin gerne tust. Kauf dir was Schönes.«
Es war weniger eine Entscheidung gewesen, sie tat es einfach. Es gab dieses offizielle Geld von Herrn Kamke, das kam in die Familienkasse. Was er ihr sonst nochzusteckte, das nahm sie für sich selbst, wie er es gesagt hatte. Doch sie kaufte sich nichts. Sondern sparte – für ihr Studium. Denn die Eltern würden ihr diesen Traum nicht erfüllen können, das wusste sie seit einem Streit beim Abendessen.
»Ich möchte Medizin studieren wie Papa«, hatte Jamina damals gesagt.
Der Vater hatte gelächelt. »Arzt ist der schönste Beruf der Welt.«
»Warum hast du dann nicht fertig studiert?« Prompte Frage der Mutter.
»Vielleicht war ich wirklich zu wenig ehrgeizig, wie du manchmal sagst. Aber unsere Tochter, die wird nicht so einfach aufgeben wie ich damals.«
»Ein Medizinstudium ist sehr lang und außerdem teuer.« Einwand der Mutter.
»Ich will das unbedingt!«
»Mir wär lieber, du beginnst gleich nach dem Abitur eine Ausbildung und dann sehen wir weiter.«
Seit dieser Zeit hatte Jamina das Gefühl, sie müsste selbst etwas dafür tun, dass dieser Wunsch sich verwirklichen ließ – und das Geld von Herrn Kamke war zumindest ein Anfang.
Ihr Gewissen regte sich immer wieder. Ein paarmal schon hatte sie den Eltern sagen wollen, dass sie etwas beiseitelegte. Es war doch nicht verboten! Sie hätten es sicherlich verstanden. Aber es hatte nie gepasst. Sie hatte den richtigen Zeitpunkt versäumt zu sagen: »Übrigens, Herr Kamke gibt mir jetzt mehr Geldund ich möchte gerne einen Teil davon sparen – für mich.«
War sie eine Egoistin, weil sie nicht alles in die Familienkasse gab? War es gemein, an sich selbst zu denken?
Was hatte die Mutter gesagt, als es um Herrn Kamke ging? Sie sollte mehr an sich denken … Genau das hatte sie doch getan, oder?
Warum, verdammt noch mal, schaffte sie es auch jetzt nicht, mit der Mutter über das Geld zu reden?
Jamina drückte sich durch die Tür hinaus in den Flur. Klingelte bei Herrn Kamke. Sie wusste, dass sie warten musste. Bis der alte Herr sich aus seinem Lehnsessel hochgewuchtet, bis er seinen Rollator in Bewegung gesetzt hatte und in den Flur hinausgetreten war. Doch die Tür ging schon auf, Alexander stand da.
Sie sahen sich an, lächelten beide vorsichtig.
»Wir sollten noch mal absprechen, wer von uns sich wann um deinen Opa kümmert.«
Alexander wirkte verunsichert. »Passt es dir nicht, dass ich
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