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Spür die Angst

Spür die Angst

Titel: Spür die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Lapidus
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Dealer kommen. Loser – J-Boy ließ sich nicht so leicht auf den Arm nehmen.
    Der einzige Knackpunkt: Wie hatten sie es spitzgekriegt?
    Das Wahrscheinlichste war, dass Silvia, der Kurier, es vermasselt hatte. Vielleicht hatte sie sich bei der Zollkontrolle verplappert. Vielleicht hatten sie auch die Hunde auf sie gehetzt. Vielleicht hatte sie aber auch – was für ein beschissener Gedanke – jemand verpfiffen.
    Im Moment war es ihm allerdings scheißegal. Der Koks gehörte ihm beziehungsweise Abdulkarim. Mindestens drei Millionen Kronen auf der Straße, brutto. Die Stockholmer Vororte gehörten ihnen.
     
    Jorge und das Mädchen näherten sich dem Waldgebiet. Der Riese hielt sich immer ein paar Schritte vor ihnen. Auf dem Boden lag eine dicke Schneeschicht, schön weiß. Der Parkweg war zum Glück gestreut. Jorge trug Sneakers an den Füßen – war froh über die Verlässlichkeit der Parkverwaltung.
    Das Mädchen wandte sich ihm zu, signalisierte, dass sie bereit war zu reden.
    »Schön, dass du gekommen bist«, begann er.
    »Es kostet.«
    »Klar. Wie ausgemacht.«
    »Ja. Was ich sagen soll?«
    »Du könntest mir deinen Namen sagen.«
    »Nenn mich Nadja. Was ich sagen soll?«
    »Fang einfach am Anfang an. Wie bist du hergekommen?«
    Sie war einsilbig. Jorge dachte: Sie ist süß. Diese besondere Ausstrahlung hatte sie auch jetzt wieder: Sie machte einen auf tough, wollte ihm aber gleichzeitig etwas mitteilen. Das spürte er. Sie hatte sich zu schnell überreden lassen. Sie war zu engagiert. Das erste Mal, als er sie im Puff in der Wohnung traf, hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass Herr R Hugo-Boss-Luft verbreitet. Jorge hatte sich bei Leuten, die ihn näher kannten, erkundigt. Es stimmte. Radovan liebte Hugo Boss. In jeder Form. Anzüge, Hemden, Mäntel. Aftershave.
    Aber wie konnte sie wissen, dass Rado nach Hugo Boss roch? Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatte es ihr jemand erzählt. Oder sie hatte ihn persönlich getroffen.
    Letzteres ließ sie zu Jorges interessantester Spur werden. Sie hatte ihm etwas mitzuteilen. Er war beeindruckt von ihrem Mut.
    Sie erzählte, wie sie vor sechs Jahren aus Bosnien-Herzegowina nach Schweden gekommen war. Als Achtzehnjährige. Bereits als Teenager viermal von der serbischen Miliz vergewaltigt. Hatte in Schweden Asyl beantragt. Zwei Jahre lang im Flüchtlingslager außerhalb von Gnesta gewohnt. Glaubte, aus ihrer Heimat zu wissen, was der Begriff Bürokratie beinhaltete. Heute wusste sie, was er in der Realität bedeutete. Das Leben war nicht leicht. Sie besuchte für zwei Stunden am Tag einen Schwedischkurs für Einwanderer. War begabt. Lernte schnell. Ansonsten lag sie den Rest des Tages auf ihrem Bett. Guckte Teleshop und Matineefilme in einem Schwedisch, das sie nicht verstand. Versuchte einmal in Stockholm shoppen zu gehen – ihre zweitausend Kronen im Monat, von denen ihr noch eintausend blieben, nachdem sie die Hälfte an ihre Familie zu Hause in Sarajevo geschickt hatte, reichten allerdings hinten und vorne nicht. Sie versuchte es nie wieder. Blieb stattdessen in ihrem Zimmer. Schlief, schaute fern, hörte Radio. An der Grenze zur Apathie. Dachte, dass nur Geld sie retten könne. Eines Abends bot ihr eine Nachbarin vom selben Flur Gras an. Das Gefühl: das erste schöne Erlebnis seit der Zeit vor der Katastrophe in Bosnien. Und so ging es weiter: Sie trafen sich einmal die Woche im Zimmer der Nachbarin. Saßen einfach da. Rauchten. Relaxten. Der Nachteil: Der Bedarf an Barem wurde immer existentieller. Schließlich schickte sie kein Geld mehr nach Hause. Aber auch das nützte nicht viel. Die Schulden wurden immer größer. Die Lösung kam schließlich von derselben Nachbarin; sie praktizierte es auch – ließ einmal in der Woche einen Typen ins Zimmer, holte ihm einen runter, leckte ihn gegebenenfalls auch. Und verdiente ein paar Hunderter. Danach trafen sie sich im Raum der Nachbarin. Drehten dickere Joints. Nahmen kräftigere Züge. Vergaßen all das Elend.
    Es funktionierte einige Monate lang. Dann tauchten plötzlich andere Männer auf. Exjugoslawen, Serben. Sie kannte ihre Gesichter nicht. Ihre Umgangsformen hingegen kannte sie nur allzu gut. Arkans Jungs. Sie schrieben ihr und der Nachbarin vor, was sie zu tun hätten. Wann sie es tun sollten. Wie viel sie bezahlt bekämen.
    Die Anzahl der Kunden erhöhte sich. Das Geld floss.
    Sie bekam kein Asyl. Ihre Wahlmöglichkeiten: entweder illegal bleiben oder in ihre kriegserschütterte Heimat mit den

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