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Spür die Angst

Spür die Angst

Titel: Spür die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Lapidus
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Nachbarschaftsgeist war sein Feind. Sein Negeraussehen eine Bedrohung. Sobald bei einer Familie eingebrochen wurde, waren alle unbekannten Individuen mit dunklen Haaren, die sich im Umkreis aufhielten, verdächtig. Ein Wunder, dass bisher noch keiner am Straßenrand angehalten und gefragt hatte, wer er war und was er hier wollte.
    Es ging ein kalter Wind. Mitte Oktober war nicht gerade seine Lieblingsjahreszeit. Aber Jorge-Boy war vorausschauend gewesen. Der Wollpulli und die Winterjacke wärmten gut. Dank sei Myrorna, dem Secondhandladen.
    Er bog von der Landstraße ab. Auf einem Schild las er
Dyvik, drei Kilometer.
Ein schmaler Schotterweg. Keine Häuser. Überall Nadelwald. Er lief los. Hungrig. Müde. Weigerte sich jedoch, die Hoffnung aufzugeben. J-Boy: noch immer auf dem Weg nach oben. In die Freiheit. Voran. In Richtung Erfolg. Radovan würde letztlich seinem Willen nachgeben. Ihm einen Pass besorgen. Knete. Perspektiven. Er würde nach Dänemark abhauen. Vielleicht ein paar Riesen in Koks investieren. Das Zeug verschachern. Kohle verdienen. Weiterziehen. Eventuell nach Spanien. Vielleicht Italien. Sich dort eine richtige Identität zulegen. Ganz neu anfangen. Den gewieften Dealer mit den besten Kontakten im ganzen Schwedenland spielen. Sich mit seinen alten Homies treffen. Alle außer Radovan würden sich in seinem Glanz sonnen. Der Jugoidiot würde ihn auf Knien anflehen, an den Deals von Kokskönig Jorge teilhaben zu dürfen.
    Der Schotterweg führte den Berg hinunter. Der Wald lichtete sich. Er sah Häuser. Links eine Scheune mit zwei grünen schrottreifen Traktoren davor. Weiter hinten Pferde. Nicht gut. Hier wohnte jemand. Er ging weiter. Fand ein anderes Haus. Brach dort ein.
    Eine kleine Küche, ein Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer, in dem einen ein Doppelbett, in dem anderen ein einzelnes. Es war kalt. Er drehte die Heizung auf. Behielt die Jacke an.
    Packte seine Lebensmittel aus. Kühl- und Gefrierschrank waren abgeschaltet, ein sicheres Zeichen dafür, dass das Haus bereits winterfest gemacht worden war. Er briet sich zwei Eier. Schnitt dicke Scheiben vom Brot ab. Legte die Eier darauf. Warf einen Blick in die Speisekammer. Fast leer: eine alte Aladdinschachtel mit Schokolade, zwei Konservenbüchsen mit gehackten Tomaten und Bohnen. Wertlos.
    Setzte sich ins Wohnzimmer. Öffnete die Türen eines Eckschranks, der mit einem verschnörkelten Blumenmuster in Rot und Blau bemalt war – vollgestopft mit Spritflaschen. Jackpot. Der gewaltigste Schnapsbunker in der ganzen Stadt.
    Er pfiff auf die Sicherheit. Jorge-Boy würde sich einen schööönen Abend machen.
    Keine Soda, kein Eis. Keine Früchte oder Säfte zum Mixen. Fuck drauf. Echte Kerle tranken das Zeug eh pur. Jorge veranstaltete eine Whiskyprobe mit sich selbst. Stellte fünf Gläser auf den Wohnzimmertisch. Goss aus fünf unterschiedlichen Flaschen ein. Griff sich die mit den verwegensten Namen: Laphroaig, Aberlour, Isle of Jura, Mortlach, Strathisla.
    Knabberte alte Aladdinschokolade. Stellte das Radio einer riesigen Sharp-Stereoanlage an. Ein Display mit gelb blinkenden Rändern und diversen Mustern leuchtete im Takt der Songs auf. Schien von anno 91 zu sein.
    Mortlach war der Beste. Er nahm noch ein Glas. Sang die Songs im Radio mit. Versuchte, zwischen den Tönen zu gleiten wie Mariah Carey.
    Goss Wasser in ein Glas und noch mehr Whisky in ein anderes. War nicht gerade sein Ding, das Zeug pur zu trinken – aber was soll’s. Er kippte es in einem Zug runter.
    Das Haus begann sich zu drehen. Schlecht gebaut. Die Ecken schief. Die Fenster schräg. Er musste laut loslachen über sich selbst – den neuen Stadtarchitekten auf dem Lande. Der Rausch lullte ihn ein.
    Freude. Und dennoch, kleiner Jorgelito, so einsam.
    Delirium. Und dennoch musste er wachsam sein.
    Er setzte sich zur Sicherheit auf den Boden.
    Plötzlich erinnerte er sich an etwas, an das er extrem lange nicht mehr gedacht hatte. Es fiel ihm ohne jeglichen Grund ein. Kam einfach an die Oberfläche. Wie er und Mama gemeinsam aus dem Laden kamen. Er war so sechs, sieben Jahre alt. Paola war schon zu Hause und wartete auf sie. Bereitete das Essen vor. Alles außer den Reis – sie hatten nicht mehr genügend, so dass Mama und Jorge einkaufen gehen mussten. Rodriguez hatte sich geweigert, und Jorge wollte nicht allein gehen. Er sah das Gesicht seiner Mutter vor sich. Deutlich, ihre dunklen Ringe unter den Augen und die Falten auf der Stirn, die sie aussehen ließen, als grübelte sie

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