Spür die Angst
Ringfinger.
Brach ihn.
»Nenn mich nicht so. Gib mir jetzt ’ne Absicherung, ansonsten brech’ ich dir die ganze Hand.«
Sergio schrie. Heulte. Wimmerte.
Nach einigen Minuten: Er beruhigte sich. Schien völlig apathisch. Sprach leise, abgehackt. »Eddie hat einen Zettel von Jorge bekommen. Kodiert. Ich und Jorge kamen auf die Idee. Vor einigen Monaten. Eddie hat ihn mir vorgelesen. Ihr könnt ihn danach fragen. Wenn ihr mir nicht glaubt. Tut mir nur nichts mehr an. Bitte.«
Mrado nickte. Sergio zeigte ihnen die Buchstaben, die er auf der Rückseite des Kuverts notiert hatte: Pq vgpiq fqpfg kt. Fwgtoq gp nc ecnng. Swg Fkqu og cåwfg. Unverständliche Buchstabenkombinationen. Eine Art Geheimschrift. Dürfte nicht unmöglich zu entschlüsseln sein. Sergio erklärte. Es war simpel: »Jeder Buchstabe ist eigentlich der, der zwei Stellen weiter vorne im Alphabet steht. Da steht also: No tengo donde ir. Duermo en la calle. Que Dios me ayude.« Mrado bat ihn, es zu übersetzen. Sergio schielte zu Ratko rüber.
Mrado erklärte: »Er versteht kein Wort.«
Der Latino übersetzte es trotzdem: »Ich hau ab. Schlafe in der Kälte. Möge Gott mich beschützen.«
Mrado und Ratko fuhren schweigend wieder heim. Mrado hatte das Isolierband genügend weit aufgeschnitten, so dass Sergio sich innerhalb von einigen Minuten würde befreien können.
Mrado sagte: »Du fandest es unnötig, oder?«
Ratko mit gereizter Stimme: »Gibt es Reis in China?«
»Mach dir keine Sorgen. Er singt nicht. Damit würde er sich nur selber verpfeifen.«
»Trotzdem, zu hohes Risiko. Es gibt immerhin Nachbarn, die was mitgekriegt haben könnten.«
»Die sind Lärm gewöhnt.«
»Nicht so einen Lärm. Dieser Asi hat ja geschrien wie ’ne bosnische Hure.«
»Ratko, kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Und der wäre?«
»Stell mich nie wieder in Frage.«
Mrado fuhr weiter. Ließ Ratko wieder in Solna raus. Bei seiner Freundin. Dachte: Glückwunsch, du hast ein geregeltes Leben.
Neue Informationen, denen er nachgehen konnte. Der Latinoausreißer hatte sich also aus dem Staub gemacht. Hatte vorgehabt, draußen oder in einer Nachtherberge zu schlafen. Aber inzwischen war es kälter geworden. Jorge musste ein ziemlicher Idiot sein, wenn er in dieser Jahreszeit draußen schlief. Die Chance also, dass er in einer Nachtherberge wohnte, war groß.
Mrado wählte die 118 118 . Bekam die Nummern und Adressen von drei Nachtherbergen in Stockholm. Die Stadtmission besaß zwei Einrichtungen: Nattugglan und Kvällskatten. Die dritte: KarismaCare lag am Fridhemsplan.
Er fuhr zu KarismaCare.
Klingelte. Wurde reingelassen. Eine kleine Rezeption. Großes Schwarzes Brett gegenüber dem Rezeptionstresen mit Werbung für die Stockholmer Obdachlosenzeitung: Werden Sie Verkäufer! Volkshochschul-kurse: Rabatt für Obdachlose. Informationsmappe mit Hinweisen zur Beitragsstaffelung. Fotos von der Suppenküche der Heilsarmee. Yogakurse in Mälarhöjden.
Hinter dem Tresen saß eine dunkelhaarige, ziemlich schmächtige Frau. In dunkelblauer Bluse mit Strickjacke drüber.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich würde gerne wissen, ob ein gewisser Jorge Salinas Barrio in den letzten vier Wochen hier übernachtet hat«, fragte Mrado mit sachlicher Stimme.
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wir haben eine gewisse Geheimhaltungspflicht.«
Mrado konnte nicht mal sauer sein. Die Frau war einfach zu nett.
Blieb ihm nur eins. Er ging runter zum Wagen. Richtete sich drauf ein, im Auto zu schlafen. Ließ die Rückenlehne ganz nach hinten gleiten. Wollte die Situation nutzen, um mit allen Pennern ein Wort zu wechseln, inklusive den Frühaufstehern, die die Herberge morgens zeitig verließen.
Er schlief besser als zu Hause. Träumte, dass er an einem Strand entlangging und ihm der Zutritt zu einer Nachtherberge verwehrt wurde, die sich in einem Klettergerüst am Waldrand befand. Woraufhin er versuchte, die Menschen auf dem Gerüst mit Sand zu bewerfen. Aber sie lachten nur. Bizarr.
Er erwachte. Es war sechs Uhr. Kaufte sich Kaffee und ein Brötchen mit Sonnenblumenkernen bei 7 -Eleven. Hielt sich wach. Hörte Radio. Die Sieben-Uhr-Nachrichten: Demonstrationen im Nahen Osten gegen die USA . Und? Sie mussten garantiert weniger Prügel von den Amerikanern im Irak einstecken als von ihren eigenen Machthabern. Europa kapierte wieder mal nichts. Aber die Serben hatten Erfahrung. Und dennoch: Jegliche Kritik an den Yankees war gut. Die Schweine hatten immerhin
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