Spur der Flammen. Roman
diese Alexandrier sind Atheisten.«
»Was könnten sie dann für eine Verwendung für ein verschollenes Buch der Bibel haben?« Wie weit ging Philos Wahn? Suchte er bei Gott nach der Rechtfertigung, einen heiligen Krieg anzuzetteln oder Armageddon herbeizuführen? Standen in ›Mirjams Lied‹ womöglich Worte, die ein Wahnsinniger als Aufruf zu einem nuklearen Holocaust verstand? »Glenn, wir müssen uns beeilen. Wir müssen runter von diesem Schiff, es braucht zu lange.«
»Einverstanden.« Er sah auf das Tagebuch in seiner Hand. Er hatte die letzten Seiten gelesen.
Jetzt konnte er ihr davon erzählen. Er fühlte sich sicher. Hatte sich unter Kontrolle. Er musste ihr nicht länger ausweichen. Obwohl er sie über die Maßen begehrte und am liebsten gleich jene Stelle an ihrem Hals geküsst hätte, hinter der sich diese betörende Stimme verbarg, wusste er, dass er der Versuchung widerstehen konnte.
Die letzten Worte seiner Mutter hatten ihm neue Kraft verliehen, er war jetzt wieder Herr seiner Sinne.
In zwei Monaten werde ich mit Glenn nach Morven reisen, um ihn in den Orden einzuführen. Aber ich fürchte um das Leben meines Sohnes. Ich fürchte Philos fortschreitenden Wahnsinn. Ich spüre, dass er eine Gefahr für Glenn darstellt. Was soll ich nur tun?
»Morven ist ein Ort«, sagte Glenn. »Ich weiß nicht, wo er liegt, aber Philo ist dort.« Die letzten Worte seiner Mutter:
Philo hat es auf meinen Sohn abgesehen. Jemand muss ihn aufhalten.
»Stavros sagt, dass wir morgen früh in Salerno anlegen. Irgendwie werden wir an Land kommen, ein Flugzeug nach England nehmen. Und von dort werden wir Morven und Philo finden.«
Bald schon, dachte Philo voller Vorfreude, wird Glenn Masters die ungeheure Ehre zuteil werden, sein Leben für eine geheiligte Sache opfern zu dürfen. Natürlich würde er zunächst Widerstand leisten, dennoch, er war Lenores Sohn und hätte schon vor langer Zeit in den Orden eingeführt werden müssen. Philo war zuversichtlich, dass Glenn, wenn er seine Bestimmung erst einmal begriffen hätte, Einsicht zeigen und sein Leben gern für eine höhere Sache opfern würde.
Unruhig ging er hin und her, während Mildred Stillwater unter einem fluoreszierenden Licht über den Tontafeln brütete. Um die Geheimschrift zu entziffern, benutzte sie den ›Code‹, die Fotokopie von dem Duchesne-Stein, die aus Candices Hotelzimmer in Palmyra gestohlen worden war.
Mildred war über die Maßen entzückt über Candice Armstrongs Großzügigkeit, den Code mit ihr zu teilen und die Tafeln Philo auszuhändigen. Sie mutmaßte, dass dies nur auf Betreiben von Glenn geschehen sein könnte, der mittlerweile wusste, dass er ein Alexandrier und damit einer der ihren war.
»Trifft es unsere Erwartungen?« Philo versuchte, seine Ungeduld zu verbergen.
»O ja!«, rief sie begeistert. »Ein echter Schatz! Einer der schönsten in unserer Sammlung.«
Philo stimmte dem zu, wenngleich die Tontafeln für ihn noch eine andere Bedeutung hatten: dass sich nämlich seine bald zwanzig Jahre harter Arbeit dem Ende näherten. Die Tontafeln von Dschebel Mara waren das letzte Teil in einem riesigen Puzzle.
Die arme Mildred, die nie Fragen stellte, immer tat, was sie geheißen wurde. Vor vielen Jahren hatte sie auf der Schwelle zum Traualtar und zu einem neuen Leben gestanden. Das konnte Philo nicht zulassen. Als weltweit größte Expertin in Orientalistik, mit sämtlichen alten orientalischen Sprachen, Alphabeten, Dialekten und Untersprachen vertraut, war sie für ihn von unschätzbarem Wert. Er brauchte sie hier für seine Arbeit. Er hatte sie nach allen Regeln der Kunst so gründlich verführt, dass sie ihren Bräutigam vor dem Traualtar stehen ließ.
Mildred hob den Kopf und sah Philo mit hungrigen Augen an. Ihr flehender Blick rührte ihn. Sie hatte alles für ihn aufgegeben, hatte ein freudloses, asexuelles Leben geführt. Keine Umarmung eines Mannes, kein Kind waren ihr gegönnt.
Von ihrer Ergebenheit und Aufopferung gerührt, tat Philo etwas, was er noch nie getan hatte: Er umfasste ihr Kinn mit der Hand, hob ihr Gesicht zu sich auf, beugte sich über sie und küsste sie zart auf den Mund. Seine Lippen verharrten ein wenig, schließlich war es ihr erster Kuss nach dreißig Jahren und sollte ihr letzter sein.
Er löste sich von ihr. Mildred stand wie gelähmt. Ihre Augen leuchteten wie zwei Sonnen, von tiefer Dankbarkeit erfüllt.
Philo lächelte in sich hinein. So unangenehm war dieser Kuss nun wirklich nicht
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