Spur der Flammen. Roman
Hoffnungen und Träumen, Wünschen und Enttäuschungen von sechs Milliarden Seelen – seine Welt. Denn dies alles gehörte ihm, Philo Thibodeau!
Wovon selbstredend niemand etwas wusste. Aber das würde sich bald ändern. An dem Tag, da Philo zu Posaunenklängen und Fanfarenstößen einherschreiten würde. An dem Tag, da er vor dem Papst stehen und dieser Philos Ring küssen würde.
»Ich weiß jetzt, was du vorhast.«
Er wandte sich um und sah Jessica in der offenen Balkontür stehen. Ihre feuerrote Mähne wehte im Wind. Sie trug eine schwarze Bundfaltenhose, dazu eine weiße Seidenbluse, die ihre schmale Taille betonte. Sie war eine Stunde zuvor mit einem Privathubschrauber eingeflogen. Philo zog eine Augenbraue hoch. »Und was wäre das, meine Liebe?«
Jessica fröstelte auf der zugigen Dachterrasse und zog sich zurück. Sie ging barfuß, denn mit Ausnahme der Küche war jeder Zentimeter des Chalets mit Eisbärenfell ausgelegt, das angenehm unter den Füßen kitzelte. Verwundert schaute sie auf das köstliche Buffet und fragte sich, ob Philo wenigstens einmal eine Mahlzeit mit ihr teilen würde.
»Auf dem Schloss«, erklärte sie, während sie die geschälten Garnelen, die Käsestücke und die prallen Weintrauben mit den Augen verschlang, »habe ich so einiges gesehen.«
Als Philo sie angerufen hatte, um sie in sein Chalet einzuladen, hatte sie ihm ihren Ausflug zu der Festung gebeichtet, wie sie die Wache überlistet und dass sie ein wenig im Schloss herumgeschnüffelt hatte. Ihre anfängliche Befürchtung, dass Philo verärgert reagieren könnte, hatte sich nicht bestätigt. Im Gegenteil, er hatte sogar Verständnis für ihre Neugier gezeigt. Ob er genauso ruhig bleiben würde, wenn sie die Bombe platzen ließ und ihre Forderungen stellte?
»Was hast du denn gesehen?«, fragte Philo und musterte die Frau, dieses schöne, künstliche Wesen, dem man nicht trauen durfte, mit kaltem Blick.
»Einen Papyrus«, sagte Jessica, neugierig auf Philos Reaktion.
»Der Aufschrift nach handelt es sich um die älteste bekannte Fassung des Markusevangeliums. Ist es echt?«
»Daran besteht kein Zweifel.«
»In der frühesten Fassung endet das Markusevangelium mit Kapitel sechzehn, Vers acht«, fuhr Jessica fort, während sie sich ein Stück Cheddar abbrach, »wo die Engel Maria Magdalena und den anderen Frauen am leeren Grab erscheinen. Die folgenden Abschnitte über das Wirken Jesu in und um Galiläa sind später hinzugefügt worden. Warum, blieb immer ein Rätsel. Also befindet sich im Schloss der
wahre
Schluss des Evangeliums?«
Philo trat an ein Gestell mit Meerschaumpfeifen und wählte eine passende Pfeife aus. »Eine genaue Analyse hat ohne jeden Zweifel ergeben, dass das Evangelium bereits zehn Jahre nach der Kreuzigung niedergeschrieben wurde und das Einzige seiner Art auf der Welt ist. Alle anderen Kapitel des Neuen Testaments wurden erst viele Jahre später verfasst, als Jesu letzte Anhänger längst tot und begraben waren.« Er öffnete einen Tabakbeutel und tauchte die Pfeife hinein. »Wie du schon sagtest, meine Liebe, glaubt die moderne Forschung, dass die geläufige Fassung des Markusevangeliums länger ist, dass sie nämlich ursprünglich bei Vers acht endete: ›Und sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich.‹ In den meisten Übersetzungen steht ›denn sie fürchteten sich‹, die korrekte Übersetzung jedoch lautet ›denn sie fürchteten sich
vor‹
. Wovor fürchteten sich die Frauen? Und warum bricht das Evangelium mitten im Satz ab? Die einen behaupten, Markus sei gestorben, bevor er es vollenden konnte. Andere wieder meinen, der Schluss des Markusevangeliums sei gekappt worden, um etwas zu vertuschen. Womöglich passte der Originalschluss nicht zur Denkweise jener Zeit.« Philo stopfte seine Pfeife. »Hast du die Übersetzung gelesen?«
»Ich hatte keine Zeit sie aufzuschreiben, aber ich habe sie mir gemerkt. ›Denn sie fürchteten sich vor dem Engel. Und der Engel sprach zu ihnen: Was fürchtet ihr mich? Erkennt ihr mich nicht? Schaut mich an und sagt mir, wer ich bin. Und Maria Magdalena blickte auf und sah, dass der Engel Jesus war, auferstanden von den Toten. Und sie sah die Male an seinen Händen und an seiner Seite. Und Jesus sprach, gehet in alle Welt und verkündet das Evangelium.‹« Jessica konnte sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen. »Ich frage mich nur, warum es nicht aller Welt verkünden? Warum ein Geheimnis daraus machen?«
Sie hob eine schlanke,
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