Spur ins Eis
dem Fußboden. Sie schob sich die Haare aus dem Gesicht, und dann blickte sie ihren Vater an.
»Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten würde, ich hätte mich das nie gefragt.«
Er nickte und drängte die Emotionen zurück, die bei diesen Worten in ihm aufstiegen. Am meisten schmerzte ihn, mit welcher Angst seine Tochter gelebt haben musste, wenn sie sich gefragt hatte, ob er nicht doch das Ungeheuer war, das für den Tod ihrer Mutter verantwortlich war.
»Das ist okay«, sagte er. »Ich verstehe das.«
»Ich meine ja nur, dass ich mich das manchmal frage. Nicht, dass ich glaube, dass du es getan hast. Und ich habe mich das auch schon lange nicht mehr gefragt.«
»Baby«, sagte er, »schau mir in die Augen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es dir jemals gesagt habe, aber ich sage es dir jetzt. Ich habe deine Mutter, meine Frau, nicht getötet.«
»Ich weiß, Dad.«
»Ich habe sie geliebt. Und wenn ich auch nur eine Sekunde glaubte, ich könnte etwas tun, um sie zurückzubringen, dann würde ich es tun.«
»Ich glaube dir.«
Sie umarmten sich. Als sie sich voneinander lösten, sagte sie : »Besteht die Chance, dass Mom noch am Leben ist ?«
»Ich glaube nicht, Liebling.«
»Aber alles ist möglich, oder ?«
»Es ist jetzt fünf Jahre her. Ich will nicht, dass du unnötige Hoffnungen hegst, okay ?«
Das Telefon klingelte. Sie blickte auf das Display. »Ich muss den Anruf annehmen, Dad.«
Will schmunzelte. »Ich liebe dich, Devlin«, sagte er.
»Dad«, flüsterte sie, »du hast gerade meinen alten Namen gesagt.«
»Ich weiß. Es ist jetzt wieder okay.« Will stand auf und ging aus dem Zimmer. Als er die Tür hinter sich schloss, sagte Devlin : »Hey, Lisa, wie ist es gelaufen ?«
Er ging durch das alte Haus und schloss überall die Fenster. In der Nacht war Frost angesagt.
Die Möglichkeit, einen Abschluss zu finden, auch nur einen Hauch seines alten Lebens wiederzubekommen, erregte ihn. Er hatte seine Eltern, seine Schwester, seine alten Freunde nicht mehr wiedergesehen, seit er mit Devlin aus Arizona geflohen war, und der Schmerz, den ihr Verschwinden damals ausgelöst haben musste, begleitete ihn. Jeden Tag checkte er die Blogs und Websites seiner Freunde, googelte seinen und Devlins Namen, um zu sehen, ob noch jemand nach ihnen suchte. Ob sie noch erwähnt wurden. Ob man an sie dachte und sie vermisste.
Seine Arbeit fehlte ihm besonders. Der Gerichtssaal fehlte ihm, die Nervosität am Tag der Urteilsverkündung.
Zwar würde es ihm Rachael nicht zurückbringen, aber er wollte sein altes Leben trotzdem wieder zurückhaben. Vielleicht war es ja ein Schritt in die richtige Richtung, mit Kalyn nach Phoenix zu fahren.
Er setzte sich an den Küchentisch, trank kalten grünen Tee und dachte unaufhörlich : Morgen stehe ich dem Mann gegenüber, der Rachael getötet hat. Er war nervös, wollte es aber unbedingt hinter sich bringen. Schließlich hatten Devlin und er ein wenig Frieden verdient.
15
Jav
Um halb drei nachmittags, nach einer siebenstündigen Fahrt vom Hochland im Südwesten Colorados parkte Kalyn ihren Buick Regal neben einem überquellenden Mülleimer und stellte den Motor ab. Sie stiegen aus, überquerten in der sengenden Oktoberhitze den Parkplatz und blieben bei den Briefkästen stehen, damit Kalyn ihre Post herausholen konnte.
Der schmutzige Hof, in dem Devlin stand, war umgeben von vier Wohnblöcken, die jeweils acht Wohnungen enthielten, vier im oberen Stockwerk, vier unten.
In der Nähe stand eine kaputte, rostige Schaukel. Ein Rollerskate und ein schlaffer Fußball lagen einsam in einem Sandkasten ohne Sand. Das stetige Surren der Klimaanlagen und das Rauschen der nahen Autobahn deuteten darauf hin, dass es Frieden und Stille hier nicht gab.
Sie betraten das Treppenhaus des nördlichen Gebäudes. Über ihnen donnerte ein Jet im Landeanflug auf den Phoenix Sky Harbor International Airport nieder.
Sie stiegen eine Metalltreppe hinauf, die im ersten Stock in einen offenen Flur mündete. Kalyn blieb vor der dritten Tür stehen. Die Messingbuchstaben waren entweder abgefallen oder gestohlen worden, denn die Nummer 22 war mit rotem Filzstift auf die Tür geschrieben worden.
Sie schloss auf und ließ sie herein. Schon in der Diele sah Devlin, dass von einem Zuhause hier keine Rede sein konnte. Ein kleines Wohnzimmer. Eine noch kleinere Küche. Weiße Wände, die dringend einmal gestrichen werden müssten. Der enge Flur führte zum einzigen Schlafzimmer.
In der Wohnung herrschten
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