Spur nach Ostfriesland
langsam. »Sie entschuldigen mich?« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern schob seine Frau zur Seite und ging ins Haus.
***
Marilene kämpfte sich die Stufen zu ihrem Büro hinauf. Eigentlich war sie hundemüde von der Autofahrt, aber sie war viel zu aufgedreht, um zu Hause herumzusitzen. Oder irgendwo sonst, was das anbelangte, sie hatte sogar Anitas verlockende Einladung, zum Abendessen zu bleiben, ausgeschlagen, als sie Arne dort abgesetzt hatte.
Sie würde umziehen, jubelte sie innerlich, ihre zwischenzeitlich aufgetauchten Zweifel waren vergessen, die Bedingungen waren einfach zu gut, um noch einen Rückzieher zu machen. Bereits am nächsten Wochenende würde sie wieder nach Leer fahren, um die Verträge zu unterschreiben. Das bedeutete, dass sie als Allererstes Lothars Einladung absagen musste. Und den Mietvertrag kündigen. Die Mietverträge, genauer gesagt. Und überhaupt Listen anfertigen über all das, was es in der kurzen Zeit bis Mai zu erledigen galt. Aber Listen konnte sie gut, schließlich hatte sie erst im Vorjahr den beruflichen Umzug bewältigt, jetzt kam halt noch der private dazu. Kein Problem, hoffte sie.
Das Einzige, was ernsthaft auf ihr lastete, war das anstehende Gespräch mit Anita und den Kindern. Heute hatte sie dem noch aus dem Weg gehen können, aber allzu lange wollte sie das nicht aufschieben, sie verabscheute Geheimniskrämerei, und bislang wusste nur ihr Vater von ihren Plänen.
Gott, war sie aufgeregt. Sie stellte, oben angelangt, ihre Aktentasche ab und verschwand kurz im Bad. Während sie sich noch die Hände abtrocknete, hörte sie Schritte auf der Treppe, polternde Schritte, die eher nicht zu Lothar passten. Sie öffnete die Tür. Richtig, Gerrit.
»Hallo, schöne Frau.« Er verbeugte sich, dass es einem Balletttänzer zur Ehre gereicht hätte.
»Hallo, Gerrit«, grinste sie. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass es ratsam war, nicht auf seine Schmeicheleien einzugehen.
»Kann ich mit rein?« Die Samtstimme untermalte seinen schönsten Augenaufschlag.
»Sicher.« Sie schloss auf, und Gerrit schnappte sich im Vorbeigehen ihre Aktentasche und schlenderte betont langsam an ihr vorbei. Wenn sie nicht ein Vierteljahrhundert älter wäre, würde sie meinen, er wackle ihretwegen aufreizend mit seinem Hinterteil. Und es war aufreizend. Kindskopf. »Was gibt’s denn?«, erkundigte sie sich.
»Soll ich uns einen Kaffee kochen?«
Das hörte sich nach einem längeren Besuch an. »Klar, warum nicht?« Sie ließ ihn machen, nahm nur zwei Tassen aus dem Schrank und stellte Zucker und Milch hinzu, bevor sie sich eine lang entbehrte Zigarette anzündete.
Gerrit stand mit schief geneigtem Kopf vor der glucksenden Kaffeemaschine wie vor einer künstlerisch wertvollen Installation. Er schien sich von dem Anblick förmlich loszureißen, hob ihre eben fallen gelassene Aktentasche auf und brachte sie zu ihrem Schreibtisch.
»Danke«, sagte sie mechanisch und paffte gedankenverloren. Sie fragte sich, ob Zinkel sein Versprechen, sie über Inkas Zustand zu informieren, halten würde. Seit sie eben Anita von dem Vorfall hatte berichten müssen, war das Geschehene wieder gegenwärtig, sogar mehr als zuvor, denn um Arnes willen hatte sie ganz bewusst heruntergespielt, was ihr nun in die Glieder fuhr. Mit weichen Knien ging sie hinüber zu ihrer Sitzgruppe und ließ sich in einen der Sessel fallen.
Gerrit saß hinter ihrem Schreibtisch. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er und bedachte sie mit einem besorgten Blick.
»Wieso? Bin ich grün?«
»Eher blass. Wo kommst du überhaupt so spät her?«
Sie verdrehte die Augen. »Ich war in Ostfriesland, bei meinem Vater.«
»Fehlt ihm was? Du bist so plötzlich verreist …« Er kritzelte versonnen auf ihrem Notizblock herum.
»Nö, es geht ihm gut, das war eine spontane Idee.« Was war das hier? Inquisition? Und seit wann versuchte er sich im Gedankenlesen? Das war Lothars Disziplin.
»Nö ist kein eindeutiges Nein«, beharrte Gerrit. »Und wer ist Inka Morgenroth?«
»Hä?«
Er hielt den Block so, dass sie ihn sehen konnte. Ihre Schrift hatte sich durchgedrückt, und er hatte sie durch Schraffieren sichtbar gemacht. »Jetzt dachtest du bestimmt, ich hätte Lothars Methode kopiert, was?«
»Ach, das ist eine Methode? Kann man die erlernen?«
»Frag ihn selber. Du lenkst ab.«
Sie gab sich geschlagen. Wenn sie ihn nicht hochkant und für alle Zeiten aus ihrem Büro verbannte, würde er nicht aufgeben. Außerdem brauchte er sicher nicht
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