Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
Vom Netzwerk:
aufgeben, nur um auf dich aufzupassen. Ich könnte höchstens Gerrit engagieren, der ist billiger.«
    »Bist du dir da ganz sicher?«
    »Nein«, gab Lothar zu.
    »Verschon mich«, sagte Marilene. Sie wäre vollauf damit beschäftigt, sich seiner unangemessenen Avancen zu erwehren, seines ritterlichen Beschützerinstinkts, den Gerrit, falls unzureichend, auch um seine Kumpel erweitern würde, um lückenlose Bewachung zu garantieren. Und seines unglaublichen Charmes. Gerrit war gerade mal neunzehn Jahre alt, ein Computer-Genie mit eigener Firma, die im Stockwerk unter dem ihren residierte, und stand kurz vor dem Abitur.
    »Ich wünschte nur«, seufzte Marilene, »Marie wäre bei dir in die Lehre gegangen, dann müsste ich mir jetzt keine Sorgen machen.«
    »Um Marie nicht«, entgegnete Lothar und stand auf. »Übrigens, der eigentliche Grund für meinen Besuch bei dir ist der, dass ich dich gern zu einer kleinen Feier nächste Woche Samstag einladen würde.«
    »Und ich dachte, du hattest einer ›Schönen in Not‹ helfen wollen, sagtest du das nicht?«
    »Schon, aber wollen die Schönen je gerettet werden?«
    »Kommt vermutlich ganz auf den Ritter an.« Marilene kratzte sich verlegen am Kopf, jetzt war sie zu weit gegangen.
    »Also kannst du?«
    Sie zögerte. Das Letzte, was sie wollte, war ein weiterer Mann in ihrem Leben, dessen wie auch immer geartete Erwartungen sie nicht zu erfüllen gedachte. »Aus welchem Anlass?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
    »Nennen wir es eine runde Sache.«
    Na bitte, sie hatte es doch gewusst. »Viele Gäste?«, fragte sie.
    »Ich denke schon, ja.«
    »Gerrit?«
    »Nein.« Lothar schüttelte vehement den Kopf. »Und es wäre mir lieber, er erführe nichts davon.«
    »Okay«, sagte sie gedehnt.
    »Okay ja?«
    Marilene nickte.
    »Fein«, Lothar hatte die Hand schon auf der Türklinke, »ich lass dich rechtzeitig wissen, wo. Das hängt, äh, von der Zahl der Gäste ab. Also mach’s gut, ich muss los, ein Termin.«
    Er überschlug sich fast in seiner Eile, hinauszukommen, beinahe, als fürchte er, sie würde ihre Zusage noch zurücknehmen, falls er ihr Gelegenheit dazu gäbe. Sie hörte ein Pfeifen im Flur und lauschte angestrengt. Unsinn, schalt sie sich, Lothar pfiff nicht.
    ***
    Sie war lange nicht mehr hier gewesen, doch es hatte sich nichts verändert, und das Wartezimmer war ihr nach wie vor so vertraut wie ihr eigenes Wohnzimmer. Eine gemütliche, mit dunkelblauem Stoff bezogene Couch und zwei Sessel luden regelrecht zum Lümmeln ein, und sie hatte bei jedem Besuch einen anderen Platz gewählt, allein, um das Angebot zu würdigen, denn nie war sie auf weitere Patienten getroffen, die den Raum hätten bevölkern können. Klienten, korrigierte sie sich, ein Ausdruck, der ihr stets widerstrebt hatte. Diskretion war alles, und ein Hinterausgang verhinderte, dass man sich etwa begegnete. Ein heimlicher Beobachter würde das natürlich seltsam finden, all die Menschen, die an einem Tag das Haus betraten, aber nicht wieder herauskamen. Hinein. Nicht heraus. Falsches Thema, merkte sie. Zu spät.
    Sie bekam schwer Luft, japste förmlich, und es brauchte all ihre Konzentration, um sich von dem Gedanken loszureißen, den Blick auf das Landschaftsaquarell gegenüber zu richten, Ostsee vielleicht, der Sand, dessen Wärme sie förmlich spüren konnte, das Gras auf den Dünen, der Zipfel Meer, so blau wie der Sessel, in dem sie versank, oh Gott, schon wieder, sie versuchte, sich aufrechter zu setzen, drückte die Schultern durch und kämpfte, wandte den Kopf nach rechts, ein anderes Bild, Acryl, ein surrealistischer Wirbel, nichts, woran man sich festklammern könnte, um den Schwindel zu bremsen. Sie kippte vornüber, und ihre Hände krallten sich in das niedrige Tischchen, blanke Fläche, keine Zeitschrift, kein Buch für den Fokus, nur eine Schachtel Kleenex, deren Vorhandensein ihr nie bewusst gewesen war, bis eben jetzt, bis die pure Not sie zwei, drei Tücher herausreißen ließ.
    Sie knüllte sie in den Händen, fest, als könne sie so das Zittern ihrer Hände unterdrücken oder sich wenigstens vormachen, es handelte sich um Wut und nicht um das, was es war: Angst. In ihrer reinsten Form. Ursprünglich und eiskalt und allumfassend. In nie durchlebtem Ausmaß. Nicht, als sie noch ein Kind war, mit ansehen hatte müssen, was kein Kind je ansehen sollte. Und auch nicht im letzten Jahr, während der acht Wochen, in denen sie fort gewesen war. Sie hatte geglaubt, dass sie allein damit

Weitere Kostenlose Bücher