Spuren des Todes (German Edition)
verstand ich selbst nicht. Wo ich Musik doch so liebte.
Als Nächstes war es dann eine Blockflöte, die gefiel mir schon besser. Aber richtig verliebt habe ich mich erst, als ich zum Saxophon wechseln durfte. Was ein Weilchen dauerte. Ich musste meinen ganzen Dickkopf einsetzen, bis ich meine Eltern überzeugt hatte.
Mein Saxophonlehrer war totaler Jazzfan. Er besaß die wunderbare Gabe, auch andere dafür begeistern zu können. Für mich öffnete sich die Tür zu einer neuen Welt. Saxophon und Jazz – ich wollte nichts anderes mehr. Der Lehrer hatte eine riesige Platten- und CD -Sammlung. Ich lieh mir ständig welche aus und überspielte sie auf Kassette. Die Cover bastelte ich selbst, Hauptsache sie waren schön bunt. Noch besser war natürlich, einen der großen Jazzmusiker live zu erleben. Sobald einer von ihnen in Reichweite von Lippstadt auftrat, fuhren wir hin. Einmal ging es nach Recklinghausen, dort spielte Miles Davis.
Mein Idol war Dexter Gordon, ein Gigant. Seine Musik ist für mich heute noch das Größte. Wobei ich damit zu der Zeit etwas aus dem Rahmen fiel. Die meisten, die damals mit Saxophon anfingen, ließen sich eher von Michael Brecker beeinflussen und von John Coltrane natürlich, noch so ein Genie, der allerdings längst nicht mehr lebte, also auch nichts Neues kreieren konnte. Der stilbildende Saxophonist in den achtziger Jahren war eindeutig Brecker. Es gibt aus der Zeit unheimlich viele, die sich seinen Stil angeeignet haben und ähnlich klingen wie er. Ich bewunderte ihn damals ebenfalls, aber ich wollte nicht so klingen wie er. Ich mochte die Alten, Traditionelleren viel lieber.
Sowieso war das Allerbeste, selbst zu spielen. An der Musikschule existierten verschiedene Ensembles, von der Bigband bis zum Saxophon-Quintett, bei denen man mitmachen konnte. Einige Zeit vor dem Abi schloss ich mich außerdem einer Rockband an. Lippstädter Altrocker, jedenfalls die meisten von ihnen – und aus meiner Perspektive betrachtet, als Schülerin. Das gefiel meinen Eltern überhaupt nicht. Ihr wohlbehütetes Töchterchen, in diesem Umfeld! Sie sahen mich schon auf die schiefe Bahn geraten. Wahrscheinlich wäre mir an ihrer Stelle auch himmelangst geworden. Aber die Musik war mir eben sehr wichtig. Einen Tag vor dem Biologie-Abitur war ein Auftritt mit der Band geplant, da wollte ich natürlich dabei sein. Ich konnte die Jungs doch nicht im Stich lassen. Also schleppte ich mein Bio-Zeug mit zum Soundcheck. Immer, wenn ich mal eine Pause hatte, versuchte ich, mir noch etwas einzubimsen. Mit Erfolg, wie sich herausstellte. Die Abi-Prüfung war besser als alle Bio-Klausuren, die ich jemals geschrieben hatte. Und so war es eigentlich immer: Wenn ich Saxophon spielen konnte, hat mich das für andere Aufgaben gleich mit motiviert.
Deswegen erzähle ich das auch. Ohne Musik wäre ich vermutlich keine Ärztin geworden. Ich hätte Dave, meinen Mann, wohl niemals kennengelernt. Und ich würde heute auch nicht in London leben. Jedes Mal, wenn eine wichtige Weiche in meinem Leben gestellt wurde, war irgendwie die Musik, der Jazz, mit im Spiel.
Am besten, ich fange mit Dave an – wie er in mein Leben kam. Dave ist Musiker, Saxophonist, das erklärt vielleicht schon einiges. Doch bevor ich ihm begegnen sollte, war erst mal ein anderer da, der mir den Kopf verdrehte. Michael hieß der junge Mann. Er kam eines Tages mit dem National Youth Jazz Orchestra nach Lippstadt. Aus London. Das Orchester sollte im Stadttheater spielen. Die jungen Musiker übernachteten bei Gastfamilien. Wir beherbergten zwei. Einer davon war Michael – Anfang zwanzig, attraktiv und ein guter Saxophonist. Ich verknallte mich gleich in ihn, aber er war am nächsten Tag wieder weg, das Orchester reiste weiter. Irgendwann schickte er mir eine Karte aus London, ich sollte ihn besuchen kommen. Ich war achtzehn oder neunzehn und dachte natürlich, das ist die große Liebe. Immerhin hatte er mich an dem Abend in Lippstadt geküsst. Und wer mich küsste, wollte mich bestimmt auch heiraten – was man halt so denkt in dem Alter, noch naiv bis unter die Haarspitzen.
Zumindest kam ich durch Michael das erste Mal nach London. Er hatte kurz darauf Geburtstag, und ich bildete mir ein, mein Besuch würde für ihn das schönste Geschenk sein. Ich will es kurz machen: Dass ich dort plötzlich auftauchte, schien für ihn tatsächlich eine Überraschung zu sein, allerdings in einem etwas anderen Sinne, als ich vorher gedacht hatte. Offenbar war die
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