Spuren des Todes (German Edition)
Münster aus hatte ich ein Blockpraktikum und später eine Famulatur in der Forensischen Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn gemacht. Das war damals die größte Einrichtung für Maßregelvollzug in Deutschland. Über dreihundert psychisch kranke Straftäter wurden zu der Zeit dort therapiert, darunter Mörder, Kinderschänder, Brandstifter – verurteilte und noch nicht verurteilte, Männer wie Frauen.
Ich hatte mich bewusst für diese Klinik entschieden. Eickelborn ist ein Ortsteil von Lippstadt. Dadurch kannte ich viele Geschichten, die sich um die Klinik rankten. Ein Teil der Angst, die meine Eltern um uns als Kinder hatten, war darauf zurückzuführen. Wenn wir früher irgendwohin wollten, bestanden sie immer darauf, dass uns einer von ihnen hinfuhr und auch wieder abholte.
Eine der schlimmsten Geschichten, die Eickelborn bundesweit in die Schlagzeilen brachte, war damals noch nicht lange her. Ein Insasse der Klinik hatte während eines Freigangs ein siebenjähriges Mädchen aus dem Ort, das zum Tennis wollte, überfallen, in ein Gebüsch gezerrt, gefesselt, vergewaltigt und anschließend mit einem Stilett erstochen. Und fast genau vier Jahre zuvor war einem dreizehnjährigen Mädchen das Gleiche widerfahren, nur dass der Täter sie nicht erstochen, sondern mit einem Holzstück erschlagen hatte.
Jetzt bekam ich die Chance, mir selbst einen Einblick zu verschaffen. Wie ging es in der Klinik, hinter den acht Meter hohen Drahtzäunen, die Tag und Nacht bewacht wurden, zu? Was waren das für Gestalten, die die Menschen draußen für Ungeheuer hielten? Ich konnte mir sogar den Bereich aussuchen und entschied mich für den Hochsicherheitstrakt, wo die schwersten Fälle untergebracht waren.
Ich kann mich nicht mehr entsinnen, ob es Zufall war oder ob ich glaubte, mich damit auf das einstimmen zu können, was mich dort erwartete. Aber ich weiß noch, dass ich damals »Das Schweigen der Lämmer« sah.
Die Realität war anders, aber auch faszinierend – wenn man das so sagen konnte. Ein bisschen wie auf einem anderen Planeten. Allein bis man die Station überhaupt erreicht hatte! Zig Türen mussten auf dem Weg dorthin passiert werden. Jede einzelne wurde erst aufgesperrt und hinter einem sofort wieder verschlossen. Nirgends konnte man sich frei bewegen. Auf der Station heftete ich mich meistens einem der Ärzte an die Fersen. Das war die beste Methode, möglichst viel mitzubekommen. Ich war bei Therapiesitzungen dabei und beobachtete Patienten, wie sie die handwerkliche Beschäftigungstherapie bewältigten. Manchmal zog ich mich aber auch in ein Büro zurück und studierte ihre Akten, um mir ein Bild machen zu können, wie ihr bisheriges Leben verlaufen war, und darüber, was sie verbrochen hatten.
Einer war dabei, der hatte seine Freundin umgebracht, behauptete aber, sie hätten sich gemeinsam für den Freitod entschieden, ihm sei der letzte Schritt nur misslungen. Vielleicht hätte man ihm das sogar abgenommen. Offenbar hatte er versucht, sich die Pulsadern aufzuschlitzen, an beiden Handgelenken. Allerdings war er dabei ziemlich dilettantisch vorgegangen. Weder hatte er tief genug geschnitten noch in die Richtung, die am sichersten zum Tod geführt hätte. Was aber vor allem gegen seine Version vom geplanten Doppelsuizid sprach: Die Verletzungen, die an der Leiche seiner Freundin festgestellt wurden, konnte sich diese unmöglich allein zugefügt haben. Es gibt Lebensmüde, die es schaffen, sich selbst ein Messer ins Herz zu rammen. Solche Fälle passieren nicht täglich, aber sie kommen vor. Der Oberkörper seiner Freundin jedoch war regelrecht perforiert worden. Mit über zwanzig Messerstichen, so stand es im Obduktionsprotokoll.
Bei dem jungen Mann wurde eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Er hatte mit seiner Freundin in einer Art Traumwelt gelebt, in der sich alles nach seinen Regeln fügte. Vorbild waren alte französische Filme, in denen sich die Protagonisten gegen bürgerliche Werte und Normen auflehnten, indem sie sich von einem Teil ihrer Umwelt abkapselten und ein Bohemeleben zelebrierten, das in dem krampfhaften Bestreben, anders sein zu wollen als die Masse, freier und selbstbestimmter, total ritualisiert war. Auch das Miteinander der beiden jungen Leute bestand aus einer Anhäufung von Ritualhandlungen, die dazu dienten, sich ständig in dem Gefühl bestätigt zu wissen, man sei glücklich und niemand könne dieses Glück trüben. Sie stritten zum Beispiel niemals. Nicht
Weitere Kostenlose Bücher