Spuren des Todes (German Edition)
Todesursache war? Und ließen sich womöglich sogar Verletzungsspuren finden, die verrieten, dass die Person sich gar nicht selbst vor den Zug geworfen hatte, sondern von fremder Hand getötet und erst nachträglich zur Verdeckung der Straftat auf die Gleise gelegt worden war?
Was mich damals daran hinderte, gleich in diese Richtung zu denken, war der Respekt, den ich vor dem Fach hatte. Vor allem der Bereich Pathologie schreckte mich ab. Ich dachte, so viel medizinisches Wissen kann man sich gar nicht aneignen, um gut genug dafür zu sein.
Eine amüsante Episode fällt mir zu Münster noch ein: Am Ende des Rechtsmedizinkurses wurde ich zum Komplex autoerotische Unfälle geprüft. Mein Lieblingsthema war das nicht. Heute wäre ich um einiges abgeklärter, aber damals fand ich es ziemlich unangenehm, mich ausgerechnet dazu auslassen zu müssen. Trotzdem lief die Prüfung ganz ordentlich, zumindest bis zu dem Moment, als der Prüfer wissen wollte, warum die Leute so etwas überhaupt machten. Also warum manche Männer ihren Penis in ein Staubsaugerrohr steckten oder sich einen Draht in die Harnröhre schoben oder Hodensack und Penis abschnürten oder sich selbst beim Onanieren strangulierten. Oder warum manche Frauen sich eine Flasche in die Scheide einführten oder Gewichte an die Schamlippen klammerten oder eine Plastiktüte über den Kopf stülpten, während sie masturbierten. Solche Sachen eben. Ich versuchte eine Erklärung, natürlich möglichst wissenschaftlich. Mit der schien der Prüfer aber nicht zufrieden zu sein. Ich setzte wieder an, und er stellte wieder die gleiche Frage; so ging es eine Weile. Irgendwann war ich mit meinem Latein am Ende, mir fiel nur noch ein Satz ein: »Weil es ihnen offenbar Spaß macht.«
In Hamburg verfestigte sich dann der Gedanke, Rechtsmedizin könnte das Richtige für mich sein. Im Vorlesungsverzeichnis der Uni wurden einige Sachen angeboten, die nicht Pflicht waren, fakultativer Unterricht sozusagen, Seminare und Vorlesungen. Eins der Seminare hieß unter uns Studenten nur »Püschels Erzählstunde«. Professor Klaus Püschel war – und ist – der Leiter des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin. Falls ich es richtig erinnere, fand die »Erzählstunde« einmal pro Woche statt, vielleicht auch nur alle vierzehn Tage. Meistens war es eine Handvoll Studenten, die sich in seinem Arbeitszimmer am großen Besprechungstisch versammelte, um ihm zu lauschen. Er berichtete dann von Fällen, mit denen sie am Institut beschäftigt waren. Gab es gerade mal keine, die ihm interessant genug erschienen, schilderte er welche aus der Vergangenheit, in allen Details, sein Gedächtnis schien sie wie ein Computer gespeichert zu haben. Ob neue oder alte, spannend waren sie alle.
Und als dann die Zeit kam, sich ein Thema für die Doktorarbeit zu suchen, fiel mir zuerst Professor Püschel ein. Er hatte drei Themen zur Auswahl. Ich entschied mich dafür, die nächsten Monate damit zu verbringen, Tötungsdelikte mit sexuellem Hintergrund, die zwischen 1974 und 1998 in Hamburg geschehen waren, auf ihre forensisch-medizinischen und kriminologischen Aspekte hin zu untersuchen.
Damit hatte ich mir einen ordentlichen Batzen Arbeit aufgehalst. Denn bevor ich mich der Analyse einzelner Fälle widmen konnte, musste ich diese erst einmal finden. Für den ausgesuchten Zeitraum, immerhin fünfundzwanzig Jahre, waren beim Landeskriminalamt Hamburg 1158 Tötungsdelikte registriert, nur die gerechnet, die vorsätzlich verübt und auch vollendet wurden. Also durchforstete ich Hunderte von Polizeiakten, Sektionsprotokollen und Gerichtsunterlagen nach Kriterien, die für einen sexuellen Hintergrund der Tat sprachen: Auffindesituation des Opfers, Bekleidungszustand, Zeugenaussagen, Verletzungsmuster und Hinweise auf sexuelle Handlungen oder Ersatzhandlungen, die vor, während oder nach dem eigentlichen Tötungsvorgang vorgenommen wurden. Manchmal waren es auch die dokumentierten Aussagen der Täter, die die sexuelle Motivation offenbarten, die hinter ihrem Vorgehen steckte. Wobei nicht in jedem Fall die Tötung von vornherein geplant war. Jemanden umzubringen, um auf diese Weise seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen, das kam äußerst selten vor. Weitaus häufiger entstand die Tötungsabsicht erst nach dem Sexualdelikt, aus Angst vor Bestrafung. Oder es kam beim ursprünglich einvernehmlichen Sex zum Streit, der eskalierte und tödlich endete. Allerdings war nicht immer eindeutig, worin das Tatmotiv
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