Spuren des Todes (German Edition)
Ermittlungen hineinzuversetzen. Natürlich waren von den hundertneunundzwanzig nicht alle derart spektakulär wie die drei erwähnten. Auch wenn jeder einzelne Fall tragisch war, Tötungsdelikte mit sexuellem Hintergrund sind vergleichsweise selten. Die Zahlen waren in dem Untersuchungszeitraum, mit dem ich mich in meiner Arbeit befasste, sogar leicht rückläufig, was der Mediendarstellung ziemlich widersprach. Aufgrund des zunehmenden öffentlichen Interesses an derartigen Fällen konnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass diese ständig zunahmen. Spätestens seit »Das Schweigen der Lämmer« waren Thriller in Mode, in denen psychopathische Serienkiller ihre Opfer reihenweise auf höchst komplexe Art und Weise ermordeten. Daher waren die rückläufigen Zahlen in der Realität für mich etwas überraschend. Allerdings bildete Hamburg, wie ich erfuhr, damit keine Ausnahme. Auch bundesweit sank die Zahl solcher Taten, und dieser Trend hält bis heute an.
Und noch eine Sache weckte mein Interesse: die relativ schlechte Aufklärungsquote. Sie lag bei gerade einmal siebzig Prozent und damit rund zwanzig Prozent unter dem Schnitt, wenn man sie auf die Quote bezog, die sich für die Gesamtheit aller Tötungsdelikte ergab. Als Ursache hierfür kamen vor allem jene Fälle in Betracht, bei denen Täter und Opfer sich vorher nicht gekannt hatten. Das sind auch heute noch die, deren Aufklärung die größten Schwierigkeiten bereitet, da es häufig kaum Ermittlungsansätze gibt. Dagegen hatte bei den aufgeklärten Fällen mehrheitlich eine Vorbeziehung zwischen Tätern und Opfern bestanden.
In diesem Zusammenhang war ich auf ein kriminalistisches Werkzeug gestoßen, das in den USA vom FBI entwickelt wurde und – in modifizierter Form – zunehmend auch bei uns Akzeptanz zu finden schien: die operative Fallanalyse, auch OFA genannt. Aus den Staaten herübergeschwappt war zuerst der Begriff des Profilers. Deswegen denken noch immer viele, das Wort Fallanalyse beschreibe das Erstellen eines Täterprofils. Dabei ist das nur ein Aspekt von mehreren. Um ein solches Täterprofil erstellen zu können, muss man zunächst den Tathergang analysieren. Und dabei sind unter anderem rechtsmedizinische Befunde von Bedeutung. Die wiederum sind am besten zu interpretieren, wenn man die Verletzungsmuster am Opfer nicht losgelöst betrachtet, sondern im Kontext mit den Spuren am Tatort. Also war es wichtig – so verstand ich es –, dass sich ein Rechtsmediziner damit auskannte, wie eine Fallanalyse vonstattenging, was alles dazugehörte und wie er selbst etwas dazu beitragen konnte.
Ich denke, man merkt, wie sehr mich das Thema fesselte. Ich konnte es kaum abwarten, aus der theoretischen Welt in die praktische zu wechseln. Tatsächlich fügte es sich, wie ich es mir gewünscht hatte: Nach der Zeit als »Arzt im Praktikum« bekam ich eine Stelle am Hamburger Institut für Rechtsmedizin.
Und auch die Sache mit Dave kam ins Lot, allerdings sollte das noch ein Weilchen dauern.
III. Ein verhängnisvoller Abend
Die Frau lag im Bett, zugedeckt bis übers Kinn. Von der Schlafzimmertür aus hätte man meinen können: welch friedliches Bild. Auf dem Nachttisch, neben einer kleinen Stehleuchte, saß ein Stoffbär, blauweiß kariert. Zu seinen Füßen ein aufgeschlagenes Buch, mit den Seiten nach unten, darauf eine Brille, beide Bügel ausgeklappt, als hätte die Frau sie eben erst abgesetzt und dorthin gelegt. Und auch sonst schien niemand etwas in Unordnung gebracht zu haben. Im Gegenteil, die Bettdecke, die mit einem großflächigen Blumenmuster verziert war, sah aus, als wäre sie extra noch einmal glattgestrichen worden. Wohin ich auch sah, nichts im Zimmer deutete darauf hin, was hier in der zurückliegenden Nacht geschehen sein musste.
Davon bekamen wir – ich war mit einem Kollegen dort – erst eine Ahnung, als wir hineingingen und näher ans Bett traten. Einer der Kriminalbeamten, der uns im Hausflur entgegengekommen war, hatte uns bereits auf den Anblick vorbereitet. Jetzt erklärte sich, was er mit »ziemlich übel« gemeint hatte: Auch das Kopfkissen war mit einem Blumenmuster verziert, doch davon konnte man lediglich am oberen Rand noch einen schmalen Streifen erkennen. Der Stoff darunter war dunkelrot verfärbt – angetrocknetes Blut, da brauchte man nicht lange zu rätseln. Denn auf dem Kissen lag der Kopf der Frau, mit dem Gesicht zum Fenster gewandt, so dass man die Platzwunde auf der rechten Stirnseite, etwas oberhalb
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