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Spuren des Todes (German Edition)

Spuren des Todes (German Edition)

Titel: Spuren des Todes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith O'Higgins , Fred Sellin
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Behörden, die dafür verantwortlich sind, offenbar davon aus, dass Rechtsmedizinern notfalls auch Fotos vom Tatort genügen sollten, um sich ein Bild machen zu können. Dabei haben Fotos mindestens zwei entscheidende Nachteile: Sie sind nicht dreidimensional, und auf ihnen kann immer nur ein Ausschnitt abgebildet werden – was es dem Betrachter in der Regel unmöglich macht, die Situation am Tatort in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Genau darum geht es aber. Beinahe jedes Mal, wenn ich mir den Ort des Geschehens im Nachhinein doch noch angesehen habe, musste ich erkennen, dass die realen Gegebenheiten mit den Vorstellungen, die ich durch Fotos davon gewonnen hatte, nicht gerade übereinstimmten.
    Damit will ich keineswegs behaupten, dass Fotos vom Tatort generell unnütz wären für unsere Arbeit. Sie können durchaus hilfreich sein, als Dokumentationsmittel sowieso, und gerade auch bei Blutspurenanalysen. Etwa um sich bestimmte Details eines Spurenbilds später jederzeit ansehen zu können. Manchmal führen wir eigene Tests durch, um herauszufinden, welches Blutspurenbild nach einer bestimmten Handlung entsteht. Auch dafür ist es wichtig, Fotos von den Spuren am Tatort zu haben, zum Vergleichen. Nur sollten diese nicht die Begegnung mit der Realität gänzlich ersetzen, also auch nicht die eigenen Sinneswahrnehmungen am Tatort.
    Allerdings soll es auch Rechtsmediziner geben, denen es ganz lieb ist, wenn ihnen die Besichtigung eines Tatorts erspart bleibt. Diese Kollegen ziehen es vor, ihren Anteil an der Aufklärung eines Tötungsdelikts auf die Tätigkeit im Sektionssaal zu beschränken. Mir scheint diese Auffassung zu theoretisch. In der Praxis ist es doch eher so, dass man viele Verletzungsspuren am Körper eines Toten gerade im Kontext eines Tatorts besser »lesen« kann.
    Falls sich überhaupt ein Vorteil daran finden lässt, einen Tatort nicht aus eigenem Erleben zu kennen, dann besteht der in meinen Augen am ehesten noch darin, dass man auf diese Weise weniger verleitet wird, sich Gedanken über den Tod desjenigen zu machen, dessen Leiche vor einem auf dem Sektionstisch liegt. Die Gefahr, dass einen das Schicksal einer Person emotional berührt, ist umso geringer, je weniger man über sie weiß. Ihr Tod bleibt dann eher etwas Abstraktes, ein rein biologischer Vorgang – was er ja auch ist, wenn man es ganz sachlich betrachtet.
     
    Die Wohnung, in der die Frau getötet worden war, befand sich im dritten Stock eines schmucklosen Mehrfamilienhauses aus den siebziger Jahren am nördlichen Rand der Innenstadt. Keine besonders schicke Gegend, dafür zahlte man hier noch halbwegs moderate Mieten. Die zweiunddreißigjährige Christiane Wellbrinck, so hieß das Opfer, hatte seit etwas mehr als einem halben Jahr hier gelebt, nachdem sie sich von ihrem Freund getrennt hatte und aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war.
    Als mein Kollege und ich uns an die Arbeit machten, schien der Fall so gut wie geklärt, zumindest aus Sicht der Polizei. Mike Perlott, der ehemalige Freund von Christiane Wellbrinck, ein fünfunddreißigjähriger Werbekaufmann, hatte sich kurz zuvor auf einer Wache ganz in der Nähe gestellt, sichtlich alkoholisiert, aber noch einigermaßen Herr seiner Sinne. Gleich in der ersten Vernehmung stammelte er sich ein Geständnis von der Seele. Dabei deckten sich seine Ausführungen im Wesentlichen mit dem, was er unmittelbar nach der Tat einem Bekannten am Telefon gebeichtet hatte: »Ich habe Christiane erschlagen, mit einer Weinflasche!«
    Gut möglich, dass Mike Perlott tatsächlich von dem überzeugt war, was er sagte – doch: Es stimmte nicht. Wäre es nur der Schlag gewesen, Christiane Wellbrinck hätte vermutlich noch gelebt.
    Nachdem die Auffindesituation der Leiche von einem Polizeifotografen ausgiebig dokumentiert worden war, konnten wir mit der Leichenbesichtigung beginnen. Als wir die Bettdecke hochnahmen, fiel uns auf, dass sie an der Unterseite einige Blutflecke aufwies, und zwar an Stellen, die nicht der Lage des Leichnams und seiner Verletzung entsprachen. Entweder war das Blut schon länger an der Decke gewesen, oder der Fünfunddreißigjährige hatte sie nach der Tat in eine andere Position gebracht. Das schien uns wahrscheinlicher, zumal es unsere anfängliche Vermutung bestätigt hätte, dass jemand die Decke sorgfältig glattgestrichen hatte. Dazu passte auch das Handtuch, das quer über dem Hals der Frau ausgebreitet lag, als sollte damit etwas verdeckt werden.
    Wir hatten es

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