Spuren des Todes (German Edition)
näherzukommen. Dafür stachen wir jeweils zwei Nadelelektroden nacheinander ins linke und rechte Oberlid, etwa drei Millimeter tief, eine Elektrode in die Mitte, die zweite in den inneren Lidwinkel. So lässt sich feststellen, ob die mimische Muskulatur auf Stromstöße reagiert. Mit zunehmender Todesdauer werden die Kontraktionen, die man auf diese Weise herbeiführen kann, schwächer. Nach ungefähr viereinhalb bis fünf Stunden bleiben sie normalerweise ganz aus. An den beiden inneren Lidwinkeln waren bei vierzig Volt Reizstrom noch welche auszumachen, wenn auch spärlich, bei nur zehn Volt dagegen nicht mehr.
Wir überprüften auch die Pupillenreaktion, indem wir bestimmte Arzneimittel in die Augen der Leiche träufelten. Wie bei der Reizstrom-Methode geht es darum herauszufinden, ob dadurch sogenannte supravitale Reaktionen hervorgerufen werden. Das wäre dann ein Nachweis dafür, dass in dem betreffenden Bereich des Körpers einzelne Zellen oder Zellsysteme noch auf äußere Reize reagieren. Man erkennt das zum Beispiel daran, ob die Irismuskulatur eine Reaktion zeigt, sich die Pupillen weiten oder verengen, je nachdem welches Medikament verwendet wird. Was dann wiederum Rückschlüsse darauf zulässt, wie viel Zeit ungefähr seit Todeseintritt vergangen sein dürfte. Der Tod ist ja ein Prozess. Wenn ein Mensch stirbt, sind nicht mit einem Schlag auch sämtliche Körpergewebe tot. Bis dieser Zustand eingetreten ist, vergehen in der Regel mehrere Stunden.
Nach Auswertung aller Untersuchungen und Tests kamen wir zu der Einschätzung, dass Christiane Wellbrinck nach Mitternacht gestorben sein musste, in einem Zeitfenster von einigen Stunden.
Am nächsten Tag berichtete eine Lokalzeitung über das Tötungsdelikt. Ich staunte, was der Verfasser des Artikels in der kurzen Zeit alles herausgefunden hatte. Das meiste erwies sich hinterher als pure Spekulation. Offenbar hatte ihn der Ehrgeiz gepackt, aus den wenigen Fakten, die von der Polizei in einer Pressemitteilung bekanntgegeben wurden, unbedingt eine runde Story »stricken« zu wollen, so simpel wie einleuchtend – nach dem Schema: erst die großen Gefühle, dann die große Tragödie. Dabei war die wahre Geschichte, die Beziehung zwischen Christiane Wellbrinck und Mike Perlott, alles andere als »rund« gewesen, sondern reichlich verkorkst.
Keine Ahnung, wie die beiden sich kennenlernten, bei welchem Anlass. Ihre erste Begegnung muss ungefähr acht Jahre zurückgelegen haben, als die Tat geschah. Für Christiane Wellbrinck, hieß es später im Gerichtsprozess, soll Mike Perlott die große Liebe gewesen sein, praktisch vom ersten Tag an. Kaum dass die zwei zusammengekommen waren, drehte sich ihr Leben ausschließlich um ihn. Sie vernachlässigte ihre Freundinnen, sagte vereinbarte Wochenendbesuche bei den Eltern ab und achtete stets darauf, pünktlich ihre Arbeitsstelle zu verlassen, um jede freie Minute an seiner Seite verbringen zu können. Allerdings musste sie bald feststellen, dass ihre Zuneigung nicht im gleichen Maße erwidert wurde. Perlott war emotional noch zu sehr in seiner vorherigen Beziehung gefangen. Selbstmitleidig trauerte er der Verflossenen nach. Die sanfte Christiane Wellbrinck schien für ihn eine Art Trostpflaster zu sein. Ging es ihm schlecht, ließ er sich gern von ihr bemuttern. Ansonsten aber lehnte er eine allzu enge Bindung ab, wohl aus Angst, er könnte wieder enttäuscht werden. In seiner Freizeit zog er lieber mit Freunden um die Häuser, und sogar in den Urlaub flog er allein oder mit ein paar Kumpels. Er zögerte auch nicht, kurzerhand nach Mannheim umzuziehen, als ihm dort ein besserer Job angeboten wurde. Ohne ihr eine Silbe davon zu erzählen, unterschrieb er den neuen Arbeitsvertrag und stellte sie vor vollendete Tatsachen. Dass sie mit ihm dorthin ziehen könnte, schien für ihn keine Option zu sein.
So sehr sie sein egoistisches Verhalten kränkte, war sie doch sofort wieder zur Stelle und kümmerte sich um ihn, als sich der vermeintliche Traumjob als Reinfall entpuppte, er von den neuen Kollegen gemobbt wurde und schließlich Depressionen bekam. Perlott musste sich eingestehen, dass er weder der größeren Verantwortung noch dem gestiegenen Erfolgsdruck gewachsen war. In der schlimmsten Phase seiner Erkrankung wurde er in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Trotz der großen Entfernung besuchte Christiane Wellbrinck ihn dort jedes Wochenende. Doch all ihre Zuneigung und Unterstützung – sie grenzte an
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