Spuren des Todes (German Edition)
gibt es in ganz England nur eine sehr überschaubare Zahl. Sie werden
Home Office Pathologists
genannt. Ich bemühte mich damals auch, in diesen »Ehrenstand« aufgenommen zu werden, doch die Chancen sind mehr als dürftig, erst recht für eine Zugezogene wie mich. Wahrscheinlich muss man entweder ein halbes Leben lang warten, oder man braucht gute Beziehungen.
Deswegen musste ein Plan B her. Ich mache jetzt die Routinesektionen für
Her Majesty’s Coroner
– so lautet der offizielle Titel eines Coroners. Wie die meisten Rechtsmediziner in England bin ich nirgends fest angedockt, sondern als Selbständige tätig. Anfangs war das gewöhnungsbedürftig. Mittlerweile genieße ich aber auch die Vorteile der Freiberuflichkeit. Der größte besteht darin, dass ich mir aussuchen kann, wie viel ich arbeite. Oder vielmehr, dass ich weiß, dass ich weniger arbeiten könnte. Als Selbständiger neigt man ja oft dazu, sein Pensum eher hochzuschrauben als umgekehrt. Aber das habe ich inzwischen ganz gut in den Griff bekommen.
Jeder Coroner hat einen bestimmten Zuständigkeitsbereich, in London ist die Aufteilung nach Regionen gegliedert. Zurzeit arbeite ich für die Coroner von North London und West London, außerdem für den von Portsmouth, aber das liegt im Süden von England, an der Küste, etwa eine Stunde und vierzig Minuten Autofahrt von meinem Zuhause entfernt.
Die erste Aufgabe des Coroners ist es, die Identität des Toten festzustellen. Als Nächstes hat er zu klären, wie derjenige gestorben ist und wann und wo. Dann teilt er die Fälle nach den genannten Kriterien ein, was die Todesursache und Todesumstände betrifft, und entscheidet, ob eine Obduktion angeraten ist oder nicht. Darüber hinaus kann er zusätzliche Ermittlungen in Auftrag geben, um noch mehr über den Verstorbenen und die Ereignisse unmittelbar vor dessen Ableben in Erfahrung zu bringen.
Wenn ich hier in der Einzahl von Coroner schreibe, heißt das nicht, dass er – oder sie – die ganze Arbeit allein bewältigen muss. Dafür gibt es viel zu viele Todesfälle. Allein in London sterben jeden Tag mehr als hundert Menschen. Dem Coroner steht ein Stab von Mitarbeitern zur Verfügung, die
Coroner’s Officers
. Früher waren das hauptsächlich ehemalige Polizisten, mittlerweile kommen viele aus Pflegeberufen und aus dem Rettungswesen. Unter den Officers in Fulham zum Beispiel gibt es eine Frau, die Biologie studiert hat. Die Officers sind diejenigen, die den ersten Kontakt zu den Angehörigen haben und alle greifbaren Informationen zu einem Todesfall zusammentragen. Ein einfacher Job ist das nicht.
Eine gewaltige Umstellung war für mich, dass ich auf einmal fast nur noch Obduktionen durchzuführen hatte. Im Vergleich zu der Arbeit in Hamburg geht es hierbei beinahe schon wie am Fließband zu. Drei Sektionen sind es an einem Tag fast immer, häufig sogar mehr. Es kam auch schon vor, dass ich sieben oder acht hintereinander zu erledigen hatte. Der Durchschnitt dürfte bei etwa vier liegen. Im Gegensatz zu den gerichtlichen Sektionen in Deutschland wird hier ohne einen zweiten Obduzenten seziert.
Obwohl ich in der Regel nur an drei Tagen pro Woche Sektionen durchführe, komme ich so auf rund fünfhundert Sektionen im Jahr. In Hamburg waren es im gleichen Zeitraum zwischen fünfhundert und sechshundert – allerdings insgesamt, die von allen Kollegen zusammengezählt. Damals waren wir etwa zwanzig dort. Ich selbst führte im Schnitt fünfzig bis sechzig Obduktionen als erster Sekant durch.
Ich bin weit entfernt davon, das als Wertung zu meinen, nach dem Motto: Hier ist alles gut und dort alles schlecht. Zahlen allein sind erst mal sehr abstrakt. Wobei ich natürlich das Grundverständnis verinnerlicht habe, dass es besser wäre, einmal zu viel zu obduzieren als einmal zu wenig. Gerade mit dem Wissen im Hinterkopf, dass in Deutschland eine recht hohe Zahl an Menschen als auf natürliche Weise Verstorbene beerdigt wird, obwohl ihr Tod alles andere als natürlich war. In England landen auch Leichen auf dem Sektionstisch, bei denen man sich das sparen könnte. Aber in Deutschland sind es auf jeden Fall zu wenig, sonst gäbe es diese ernüchternden Statistiken nicht. Am besten wäre wahrscheinlich, man bekäme eine Mischung aus beiden Systemen hin.
Ein Satz noch zu den drei Tagen, an denen ich pro Woche obduziere: Das klingt erst mal wenig. Man darf aber nicht vergessen, dass ich für jede Obduktion auch noch das Sektionsprotokoll schreiben muss.
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