Spuren in der Wüste
eicht,
und seine Eltern natürlich. Und wenn er nun, an diesem Samstag,
dem 9. Juni, schon einmal ehrlich mit sich selbst war, mußte er zu-
geben, daß seine Beziehung zu Inge kaum mehr war als die Flucht
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aus seiner immer beklemmender werdenden Einsamkeit.
Werner faltete die Zeitung, steckte sie in das Außenfach seiner
Reisetasche. Er schloß die Augen. Noch einmal eine Frau wie Sil-
vana finden …
Die Fremde vor ihm lächelte wie Silvana; sie hatte lange dunkle
Wimpern wie Silvana, und der volle Mund war ungeschminkt.
Plötzlich hätte er gern gewußt, wie sie hieß und wie alt sie war
und woher sie kam. Plötzlich wollte er sie kennenlernen.
Als die Maschine gelandet war und sie ausstiegen, hielt er sich un-
willkürlich hinter ihr. Auch ihr Gang gefiel ihm und die Haltung
ihres Kopfes, und beides erinnerte an Silvana.
In der Ankunftshalle in Berlin wartete schon die Mutter auf Werner
Holt. Ihr kleines rundes Gesicht strahlte, der kleine runde Hut
rutschte schief, als sie ihn umarmte.
»Ach Junge, ach Jungchen!«
»Tag, Mutt!«
»Braungebrannt biste und gut siehste aus, auch wenn ein bißchen
dünn, was? Na warte, übers Wochenende werde ich dich verwöh-
nen. Aber was guckste dich denn immer um?«
»Einen Moment, Mutt. Bin sofort wieder da!«
Am Gepäckförderband stand die Fremde mit dem dunkelroten
Haar, ein wenig verloren, hilflos wirkend. Die Gepäckstücke glitten
an ihr vorbei. Dann griff sie nach einem kleinen beigefarbenen Kof-
fer.
»Darf ich Ihnen behilflich sein?«
Sie drehte sich langsam um, sah Werner an.
Ihre Augen waren grau oder grün oder blau, er wußte es nicht
mehr, als er darin ertrank. Es stimmte schon, dachte er verlegen
amüsiert, man konnte in Augen ertrinken.
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber sehen Sie, ich kann
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diesen kleinen Koffer gut selbst tragen.«
Ihre Stimme war dunkel, zitterte ein bißchen und hatte einen
ganz leichten fremden Akzent.
»Ich kann es besser«, sagte er lächelnd und nahm ihr den Koffer
aus der Hand.
Sie trug keinen Ring, weder rechts noch links. Aber bedeutete das
heute noch etwas?
»Ich nehme ein Taxi«, sagte sie.
»Draußen wartet ein Leihwagen, den ich bestellt habe. Darf ich
Sie mit in die Stadt nehmen?«
Sie zögerte. »Wenn es Ihnen keine Mühe macht.«
»Es macht mir Freude.«
Sie errötete und wandte schnell das Gesicht ab.
Werner hatte seine Mutter total vergessen. Aber da tauchte sie
schon neben ihnen auf, und ihr Blick glitt vogelschnell zwischen
ihm und der jungen Frau hin und her.
»Wir haben sogar einen Schutzengel«, sagte er und lächelte in die
Augen, deren Farbe er nie würde ergründen können.
»Meine Mutter, Maria Holt.«
»Ich bin Irene Blessing.«
»Sehr erfreut, Fräulein Blessing«, sagte seine Mutter, stieß ihn
aber mit dem Ellenbogen in die Seite.
Natürlich, er verdarb ihr, was seit langen Jahren ihre größte Freu-
de war: das Abholen auf dem Flughafen, die erste halbe oder Drei-
viertelstunde allein mit ihm, während sie nach Hause fuhren.
Seine Mutter war nie aus Berlin herausgekommen, sein Vater nur
als Soldat.
Durch ihren Sohn erlebte sie die weite Welt, die Abenteuer der
Fremde, die Geheimnisse anderer Länder und Kontinente.
»Mutt, es macht dir doch nichts aus, im Wagen hinten zu sit-
zen?« Und er grinste sie so an, daß es in ihren Augen aufblitzte,
aber sie flötete: »Nein, natürlich nicht, Wernerchen!«
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Die liebe Mutt, die ihren fünfunddreißigjährigen Sohn noch wie
einen Sechsjährigen behandelte.
Werner hätte sie am liebsten auf den Mond gewünscht, wenn
auch nur für diesen Moment.
»Ich war noch nie in Berlin«, sagte Irene Blessing neben ihm, als
sie in die Stadt hineinfuhren. »Aber die Luft ist so gut wie …« Sie
verstummte.
»Wie was?« fragte er.
»Wie auf dem Land. – Könnten Sie mich bitte auf dem Kurfürs-
tendamm absetzen? Hotel Kempinski?«
Im Rückspiegel sah er, daß seine Mutter zufrieden die Lippen
spitzte. Nun würde sie doch noch eine Viertelstunde mit ihm allein
sein.
Vor dem Kempinski hielt er an.
Als er Irene Blessings Gepäck aus dem Kofferraum hob, kam ein
Page angestürzt; sie war eine Frau, für die sogar heute noch Hotel-
pagen schwärmen können.
»Ich danke Ihnen, Herr Holt«, sagte Irene, und wieder berührte
ihn ihr anmutiges und unbefangenes Lächeln.
»Darf ich Sie anrufen? Bitte. Ich möchte Ihnen ein bißchen von
Berlin zeigen. Ich bin hier geboren. Bitte«, sagte er
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