Spuren in der Wüste
das
AAufgebot.
Die Alster glitzerte strahlend blau unter einem strahlendblauen
Sommerhimmel. Die jungen Mädchen trugen wehende bunte Klei-
der über eleganten, hochhackigen Stiefeln. Zwei Hunde tummelten
sich vergnügt unten vor dem Alsterpavillon.
Irene und Werner tranken eine halbe Flasche Champagner, wäh-
rend sie Zukunftspläne schmiedeten. Alles würde gut werden, sie
würden ein herrliches Leben haben.
Anschließend ging Werner zu Fuß in die Redaktion, Irene nahm
den Wagen, um nach Hause zu fahren.
Beim Abschied küßten sie sich, wie es Liebende tun, die nichts
mehr trennen kann.
Zwei Stunden später erhielt Werner einen Anruf in der Redaktion.
Irene war mit dem Wagen verunglückt.
Sie war tot.
Nach der Beerdigung beurlaubte der Chefredakteur Werner: »Flie-
gen Sie irgendwohin, wo Sie alles vergessen können.«
Aber Werner nahm ein Taxi und fuhr nach Hause.
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Er schloß sich ein.
Er wollte niemanden sehen, er konnte mit niemandem sprechen.
Er trank, was an Alkohol im Haus war, bis er bewußtlos ins Bett
fiel.
Inge besaß noch einen Schlüssel zur Wohnung, und da sie glaubte,
Werner sei – wie der Chefredakteur vorgeschlagen – irgendwohin
geflogen, um zu vergessen, ging sie in die Wohnung, um dort nach
dem Rechten zu sehen.
Sie fand Werner wie ein krankes, das Licht scheuendes Tier.
Er erkannte sie kaum, hatte Mühe, sich an ihren Namen zu erin-
nern.
Als erstes kochte sie ihm eine kräftige Fleischbrühe, flößte sie
ihm löffelweise ein. Dann packte sie ihn ins Bett und rief einen be-
freundeten Arzt.
Der untersuchte Werner mit besorgtem Gesicht, gab ihm dann
zwei Injektionen.
Nach einigen Minuten wurde Werners Atem ruhig und gleich-
mäßig. Er schlief.
»Man darf ihn nicht allein lassen«, sagte der Arzt.
Inge nickte.
Sie rief Werners Eltern in Berlin an, und als sie merkte, daß diese
noch nicht wußten, was passiert war, brachte sie es ihnen scho-
nend bei.
Maria Holt sagte entschlossen: »Ich komme morgen mit dem
ersten Flugzeug. Aber machen Sie sich bitte nicht die Mühe, mich
am Flughafen abzuholen. Bitte, bleiben Sie bei meinem Sohn.«
Inge saß still bei abgedunkeltem Licht an Werners Bett, die ganze
Nacht hindurch.
Am Morgen gegen zehn Uhr erwachte er.
Sein Blick kehrte aus dunklen Tiefen zurück.
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Aber diesmal erkannte er sie und lächelte schwach.
»Da bist du ja wieder«, sagte er. Inge gab ihm wieder von der
kräftigenden Fleischbrühe und zwei Tabletten, wie der Arzt es ver-
ordnet hatte.
Wieder schlief Werner ein, und wieder saß sie geduldig an seinem
Bett.
Gegen Mittag traf Maria Holt ein.
Sie umarmte Inge kurz und herzlich, und nach einem Blick in
das erschöpfte Gesicht der jungen blonden Frau entschied sie leise,
aber energisch: »Jetzt legen Sie sich aufs Ohr, und ich passe auf
Werner auf.«
Nach einer Woche war das Schlimmste vorbei. Werner konnte
stundenweise aufstehen.
Ludwig kam zu Besuch, brachte ihm einen Riesenkorb Früchte
aus seinem Garten mit.
»Der Chef meint, du sol test nach Hongkong fliegen. Flüchtlinge
aus Vietnam und so …«
»Wann?« fragte Werner.
»Wenn du wieder auf den Beinen bist.«
Vier Tage später brachten seine Mutter und Inge Werner zum
Flughafen.
Seine Augen wirkten immer noch leer und erloschen, aber seine
Bewegungen hatten schon einiges von seiner früheren Kraft und Be-
hendigkeit zurückgewonnen.
Seine Mutter umarmte ihn zum Abschied ohne Tränen und ohne
Sentimentalität. Sie sagte nur: »Komm gesund zurück, Werner.«
Er hielt eine Weile Inges Hand. Dann küßte er sie leicht auf bei-
de Wangen.
»Danke für alles«, sagte er, »ich rufe an, wenn ich zurück bin.«
Als er durch die Abflughalle ging, wandte er sich nicht um.
Jetzt konnten die junge und die alte Frau, die ihn beide – jede auf
ihre Weise – liebten, um ihn weinen.
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