Spuren in der Wüste
sie jetzt in Jims Augen schaute, so war es Irene, als glühte
Feuer darin.
»Ich muß in die Wüste«, sagte er immer wieder, »ich muß in die
Wüste zu meinem Herrn.«
»Warum gehst du nicht?« fragte sie ihn.
»Zu Fuß?«
»Ja, zu Fuß«, sagte sie, »oder reite doch auf einem Esel.«
Er schlug sie wieder. Mittlerweile war sie so daran gewöhnt, daß
es ihr nicht mehr viel ausmachte.
Sie wußte nur, wenn sie in die Wüste fuhren, würde es eine Ent-
scheidung geben. Wie die Entscheidung ausfallen würde, wußte sie
nicht.
Jim hieß sie einen Wagen mieten, er selbst besaß wegen Trunken-
heit am Steuer keinen Führerschein mehr.
Sie bekam – es war Hochsaison – nur einen klapprigen alten VW.
Jim hieß sie eine Straßenkarte beschaffen.
Sie erhielt die neueste, die es gab, aber Jim verwarf sie. »Was soll ich mit den neuen Straßen, ich will in die Wüste.«
Er verbot ihr, Proviant mitzunehmen.
Er wollte in der Wüste fasten.
Sie nahm dennoch wenigstens zwei Flaschen Cola mit.
Einen Flaschenöffner vergaß sie – ganz einfach, weil es in ihrem
Wagen zu Hause einen am Armaturenbrett gab.
Sie fuhren mittags los. Zuerst über normale Straßen, dann, Jim
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bestand darauf, über einen kaum sichtbaren Weg, der nach Osten
führte, mitten in die Wüste hinein.
Sie begegneten Beduinen, die ihnen Datteln und eine riesige Me-
lone schenkten.
Jim warf die Früchte aus dem Wagen, als die Beduinen außer
Sichtweite waren – er wollte ja fasten.
Und dann platzte auf dem steinigen Pfad, der nicht einmal ein
Weg zu nennen war, der rechte Vorderreifen.
Jim schrie Irene an, das sei ganz allein ihre Schuld. Er schlug sie
ins Gesicht.
Er hatte plötzlich Angst. Herzjagen und kalte Schweißausbrüche.
Sie sagte: »Ich gehe und hole Hilfe.«
Er sagte: »Aber bleib nicht zu lange, und wehe, wenn du nicht
zurückkommst!«
Sie ging zuerst in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Als
sie Jim und den Wagen hinter sich nicht mehr sehen konnte, schlug
sie einfach eine andere Richtung ein.
Sie wollte keine Hilfe holen. Sie wollte gar nichts mehr. Ihr war
gleichgültig, was mit Jim geschah und mit ihr selbst.
Sie wußte nur eines: Sie konnte das Leben mit Jim nicht mehr
ertragen.
Aber ihr Überlebenswil e war schließlich stärker als ihre Verzweif-
lung.
Sie folgte einem ausgetrockneten Flußbett und erreichte eine
Asphaltstraße; vor sich im Morgendunst sah sie das Tote Meer.
Eine Militärstreife griff sie auf.
Jetzt wurde ihr bewußt, was geschehen war. Sie dachte: Ich habe
Jim beim Wagen allein zurückgelassen. Ich habe keine Hilfe bei
den Beduinen gesucht, die so nah waren.
Jim wird sterben.
Tagelang überflogen Hubschrauber das Gebiet, in dem sie Jim
und den VW zurückgelassen hatte.
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Der Wagen wurde zuerst gefunden. Er war leer – und nicht nur
das, ausgebrannt. Und dann wurde Jim gefunden, unter einem Fels-
vorsprung, von dem er gestürzt war. Auch er hatte sich auf den
Weg gemacht, Hilfe zu finden.
Die israelischen Behörden behandelten den ›Unfall‹, wie sie es
nannten, mit sehr viel Rücksichtnahme; Irene stand ganz offensicht-
lich unter einem schweren Schock.
Und das war auch so. Denn sie wußte nun, daß sie die Schuld an
Jims Tod trug.
Wäre sie zu den Beduinen zurückgekehrt, hätte er gerettet werden
können. Aber das hatte sie gar nicht gewollt…
Jim war tot. Sie war nun frei.
Acht Wochen lang. Dann suchte der Dunkle sie in New York auf,
wo sie inzwischen – sie hatte den Mädchennamen ihrer Mutter an-
genommen – anonym in einem kleinen Apartment lebte.
Er sagte: »Ich weiß, was du getan hast. Wir werden dich nicht ver-
raten, aber du wirst unser Schweigen bezahlen.«
Und sechs Jahre lang machte Irene Kurierdienste für diesen Mann,
einen Araber.
Dann sollte sie für die Deutschen und nun für die Israelis das
gleiche tun.
Irene schwieg. Sie hatte den Kopf erschöpft gegen die Sessel ehne
zurückgelehnt.
»Jetzt weißt du alles«, sagte sie. »Und jetzt bin ich wirklich frei.«
Werner saß ihr gegenüber.
Zwischen ihnen auf dem niedrigen Couchtisch lagen die ersten
sechzig Seiten seines Manuskriptes.
Er starrte darauf, ohne sie zu sehen. Dann nahm er die Seiten
und zerriß sie.
»Ja, jetzt bist du frei«, sagte er und ging zu ihr.
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Er zog sie hoch, in seine Arme.
»Du bist frei«, sagte er, »und niemand, niemand kann dir jemals
wieder etwas antun.«
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m nächsten Morgen fuhren sie in die Stadt und bestellten
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