Spuren in der Wüste
Dollars für die Abendschule übrig zu ha-
ben. Sie wollte Lehrerin werden. Das war ihr Traum.
Und dann, eines Abends, bediente sie eine Gesellschaft, die den
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Geburtstag eines hochgewachsenen blonden Mannes feierte. Er sah
aus wie Siegfried, er sah aus wie der Held aller Sagen und Märchen.
Er trank ein bißchen viel, aber das merkte man seinem Benehmen
nicht an; er war vielleicht auch ein bißchen laut, aber das nahm
man einem so gutaussehenden Mann einfach nicht übel, und ehe
der Abend noch vorbei war, hatte er Irene um ein Wiedersehen ge-
beten – sie, die kleine Kellnerin mit den großen Träumen.
Er hieß Jim Fletcher, und wie er Irene erzählte, war er Bischof der
›Christlichen Geschwister‹, einer Sekte in Kalifornien, die zwanzig-
tausend Mitglieder zählte.
Ein Bischof, dachte sie enttäuscht, einen Bischof kann man nicht
heiraten.
Aber Jim lachte, als habe er ihre Gedanken erraten, und erklärte
ihr, daß seine Sekte nur an die einzig wichtige Lehre des Christen-
tums glaube, nämlich die Nächstenliebe. Und daß Gott Mann und
Frau schließlich geschaffen habe, damit sie einander angehörten
und Nachkommen zeugten.
Während seines Aufenthaltes in New York war er von jungen
Männern und Frauen umgeben, die er seine Brüder und Schwestern
nannte, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablasen, und er
wohnte natürlich in einem der besten Hotels, dem Plaza.
Wenn er mit Irene ausging, fielen sie auf. Amerika hat nun ein-
mal eine besondere Schwäche für gutaussehende Menschen, aber
Jim sagte: »Du würdest noch toller aussehen, Irene, wenn du so
blond wärest wie ich.« Also ließ sie sich das Haar bleichen, und zu
Hause gab es einen Riesenkrach, denn ihr Vater glaubte, sie sei nun
so geworden wie die anderen Mädchen der Umgebung – für jeden
zu haben.
Sie erzählte Jim weinend davon, und er sagte: »Ich werde mit dei-
nen Eltern sprechen.«
Er gab ihren Eltern Geld, und ihr Vater konnte sich seinen Traum
verwirklichen, eine Farm zu kaufen – in Friend's Farm, wie Werner
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ja schon wußte.
Und eine Woche später waren Irene und Jim Mann und Frau.
Sie reiste mit ihm nach Kalifornien, in einem Privatjet, der einem
seiner einflußreichen Freunde gehörte.
Sie lebte an Jims Seite in unvorstellbarem Luxus.
Und es dauerte eine ziemliche Weile, bis sie merkte, daß er diesen
Luxus aus seinen ›christlichen Geschwistern‹ preßte.
Bei den Gottesdiensten, die er zweimal wöchentlich abhielt, muß-
ten die ›christlichen Geschwister‹ im Anschluß an die Messe öffent-
lich ihre Sünden bekennen und dafür bezahlen. Die Bußen began-
nen bei zehn Dollar für eine kleine Lüge, ein Ehebruch kostete
1.000 Dollar.
»Was wil st du«, fragte Jim zynisch, als sie ihn deswegen zur Rede
stellte, »die zahlen, und dann fühlen sie sich befreit. Ist doch was Feines, sich frei von jeder Schuld zu fühlen, findest du nicht?«
Er konnte zärtlich und heiter mit ihr sein, und dann wieder, wenn
er getrunken oder im Spiel verloren hatte – er war ein leidenschaft-
licher Pokerspieler –, ließ er seine Wut an ihr aus. Dann war sie an allem schuld. Sie war vor allem daran schuld, daß sie nicht, wie er
es seinen ›Gläubigen‹ versprochen hatte, ein Kind bekam.
Einmal, als sie all das, was sie sah und hörte und auszustehen hat-
te, nicht mehr ertrug, flüchtete sie zu ihren Eltern nach Friend's
Farm. Aber die hatten kein Verständnis für ihre Undankbarkeit, wie
sie es nannten; sie riefen Jim an, und der holte sie nach Kalifornien zurück.
Jim hielt Irene einen Monat lang wie eine Gefangene. Er schlug
sie oft, aber immer so, daß man es nicht sehen konnte, das heißt,
ihr Körper war wund und mit dunklen Prel ungen übersät, aber ihr
Gesicht rührte er nicht an.
Irene wußte, daß er inzwischen auch Drogen nahm, und eines Ta-
ges mußte er sich zuviel gespritzt oder zuviel geschluckt haben, auf jeden Fall brach er zusammen, war stundenlang bewußtlos.
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Danach hielt er einen Gottesdienst in einem großen Stadion ab,
wo er seinen Gläubigen verkündete, er habe den Ruf Gottes erhal-
ten, ihn in der Wüste des Heiligen Landes aufzusuchen, um dort
für sie alle neuen Richtlinien entgegenzunehmen.
Irene vergaß diesen Tag nie, als sich Tausende vor Jim auf die
Knie warfen und ihn anbeteten wie einen Götzen.
Sie und Jim flogen mit dem Privatjet seines Freundes nach Israel.
Sie wohnten im Intercontinental-Hotel in einer fürstlichen Suite.
Wenn
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