Spuren in der Wüste
Blitzlichtern umzuckt. Dann irgendeine Hoheit, die
sich Schirm und Mantel nachtragen ließ, und plötzlich war es halb
elf, und Irene war immer noch nicht unten.
Werner trat zum Empfang.
Er bat, mit Frau Blessing verbunden zu werden.
»Bedaure, aber die gnädige Frau ist heute in aller Frühe abge-
reist.«
Werner fuhr zu den beiden Flughäfen hinaus, bestach die Stewar-
dessen und das Bodenpersonal von allen Fluggesel schaften mit sei-
nem Lächeln und der dringenden Bitte, ihm zu sagen, wohin Irene
Blessing geflogen war.
Man wollte ihm helfen, man nahm sich sogar Zeit dazu, aber nie-
mand hatte die von ihm beschriebene Frau gesehen, und keine Frau
namens Irene Blessing hatte irgendeinen Flug gebucht.
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rene war an diesem Morgen sehr früh erwacht; es war noch gar
Inicht richtig hell gewesen, und zum erstenmal seit langer, langer
Zeit hatte sie dennoch nicht das Empfinden gehabt, schnell aufste-
hen, schnell sich fertigmachen und flüchten zu müssen.
Sie lag ganz ruhig da und schaute in die aufkeimende Helligkeit,
und sie lauschte dem ruhigen Schlag ihres Herzens, und sie dachte,
daß sie zum erstenmal seit zehn Jahren wieder liebte.
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Sie sah Werners Gesicht vor sich, als male eine unsichtbare Künst-
lerhand es in den Raum, wohin auch immer sie blickte.
Er war so offen, so frei, er war – unverdorben, ja, sie benutzte dieses unmoderne Wort in ihren Gedanken. Er war vor allem anderen
auch ein Mann, zu dem man instinktiv Vertrauen haben konnte.
Aber hatte sie das nicht auch bei Jim empfunden? Ja, gerade bei
ihm, der um zwanzig Jahre älter gewesen war als sie und so gefes-
tigt, wie es schien?
Ihre linke Hand begann unruhig am Saum des Bettlakens zu zup-
fen.
Irene streckte die Finger, hob die Hand, sah, wie sie zitterte.
Es war besser, aufzustehen und eine der kleinen gelben Kapseln
zu nehmen, die ein Arzt mit großen traurigen, oder auch nur mü-
den Augen ihr in New York verschrieben hatte, vor vielen Jahre; ein
Arzt, der nicht nach ihrem Woher und Wohin fragte, einfach sagte:
»Sie sind mit den Nerven fertig«, und ihr das Medikament ver-
schrieb und sie mit einem flüchtigen trockenen Händedruck ent-
ließ, während in dem Wartezimmer die Patienten sich drängten, weil
darin nicht genügend Stühle standen. Seither hatte sie immer in
den ärmeren oder armen Vierteln großer Städte einen Arzt wie die-
sen gefunden, der keine Zeit hatte, sich wirklich mit ihr zu befas-
sen, der das Rezept schrieb und wahrscheinlich noch dankbar war,
daß sie nicht eine der Kranken war, die lange und ausgiebig über
ihre Gebrechen lamentierten.
Sie wog die kleine gelbe Kapsel in ihrer Hand. Eine Winzigkeit
ohne Gewicht. Aber was würde geschehen, wenn sie mehr davon
nahm? Beispielsweise die verbliebenen rund dreißig Tabletten?
»Nein, nur ein bißchen ruhig wil ich werden«, sagte sie zu ihrem
Spiegelgesicht. »Werner kommt doch und dann –«
Sie schluckte die Kapsel, sie ging zu dem Bett im Alkoven zu-
rück, streckte sich wieder aus, wartete, daß sie ruhig wurde. Und als sie ruhig war, bestellte sie Frühstück – bei einem Zimmerkellner,
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dessen Gähnen sie im Telefon hören konnte.
Sie stand wieder auf und duschte und zog ihren Morgenmantel
an, und als sie zurück ins Zimmer kam, war dort nicht nur das
Frühstück gerichtet, auch ein junger Mann wartete dort auf sie.
Er hielt sich nicht in irgendwelchen Schatten, sie konnte sein Ge-
sicht klar erkennen, aber es war ein Gesicht, so durchschnittlich,
daß man es schnell und ganz und gar wieder vergessen konnte.
»Frau Blessing, einen guten Morgen«, sagte er.
»Was wollen Sie hier?« fragte sie. »Wer sind Sie?«
»Ich habe mir erlaubt, auch eine Portion Kaffee zu bestel en. Fin-
den Sie nicht, daß es sich leichter spricht bei einer Tasse Kaffee?«
»Wer hat Sie eingelassen?«
Er goß für sie beide Kaffee ein, schwieg.
Sie ging zu dem kleinen Tischchen neben der Sitzgarnitur, auf
dem das Telefon stand.
»An Ihrer Stelle würde ich das lieber bleiben lassen«, sagte der
junge Mann.
»Sie haben kein Recht, einfach in mein Zimmer zu kommen. Ich
brauche nur den Empfang anzurufen –«
»Nehmen Sie Zucker und Milch?«
»Sie sind unverschämt!«
»Aber, Frau Blessing, solche Worte wollen wir doch gar nicht erst
gebrauchen. Mit ein bißchen Höflichkeit und Freundlichkeit läßt
es sich doch viel besser zusammenarbeiten, nicht wahr?«
Er setzte sich in einen der Sessel, nahm sich eine Tasse
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