Spurlos in der Nacht
bringen wollen, Dinge zu tun, die sie gar nicht wollte?»
«Ein bisschen vielleicht.»
«Hat er sie jemals vergewaltigt?»
«Nein, sind Sie verrückt? So war das doch nicht.»
«Hast du gewusst, dass sie sich im Boot von Kathrines Stiefvater getroffen haben?»
«Ja.»
Am nächsten Tag saß André Hansen in einem der kleinen Verhörräume. Ihm war schlecht und er war müde. Er hatte in der Nacht fast nicht geschlafen. Und gegessen hatte er auch nichts. Er brachte nie etwas herunter, wenn er sich vor etwas fürchtete. Das Auftauchen der Polizei im Seven-Eleven war für ihn ein Schock gewesen. Er hatte gewusst, dass die Männer Polizisten waren, obwohl sie keine Uniform getragen hatten. Als man ihn zur Vernehmung bestellt hatte, war er in Panik geraten. Er hatte mit seinem Bruder sprechen, in Erfahrung bringen wollen, was eigentlich los war. Aber Kenneth war erst spät nachts nach Hause gekommen, und André hatte irgendwann das Warten aufgegeben. Am nächsten Morgen hatte seine Mutter dann erzählt, dass Kenneth und Lars einen Ausflug nach Schweden machten. Nur, damit sie etwas zu tun haben, hatte sie gesagt. Kenneth schien ziemlich fertig zu sein. Und Lars war das offenbar auch.
André Hansen trug schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit der roten Aufschrift AVALON.
Cato Isaksen brachte zwei Flaschen Cola und zwei Gläser. Er setzte sich auf die andere Seite des Tisches und schenkte ein. «Bitte sehr», sagte er und schob dem Siebzehnjährigen das eine Glas hin. Ihm fiel auf, dass der mittlere Bruder totenblass war, ein Eindruck, der durch die langen schwarzen Haare natürlich noch verstärkt wurde.
«Was bedeutet Avalon?», fragte er und nickte zu der Schrift auf dem T-Shirt hinüber.
«So heißt ein Laden», sagte André Hansen.
«Was für ein Laden?»
«Der liegt im Paléet auf Carl Johan. Da werden Magic-Karten, Bücher über Rollenspiele, Zubehör und solche Dinge verkauft.»
«Deine Augen», sagte der Ermittler dann und musterte die großen Pupillen. «Was hast du damit gemacht?»
«Linsen», erklärte André Hansen rasch. «Ich nehme schwarze Kontaktlinsen, wenn ich spiele.»
«Bei den Computerspielen?»
«Nein, bei den Rollenspielen.»
«Und warum benutzt du sie jetzt?»
«Weil ich hierher kommen musste.»
Cato Isaksen lächelte traurig. Der Junge schien außer sich zu sein. «Das ist eine ganz eigene Welt, in der ihr euch da bewegt, nicht wahr?»
Der Junge nickte.
«Erzähl mir ein bisschen davon.»
«Sie meinen, über die Rollenspiele?»
Der Ermittler nickte.
André Hansen schien einen Moment zu zögern, so, als ob er befürchtete, etwas zu verraten. «Wir reden eigentlich nicht viel darüber. Es soll irgendwie nur uns gehören. Aber etwas so Besonderes ist es auch wieder nicht. Sie könnten sagen, dass wir damit unsere Intelligenz herausfordern. Vor allem vielleicht die räumliche Intelligenz.»
«Die räumliche?»
«Ja. Wir begeben uns auf imaginäre Reisen von A nach B, um es kurz zu sagen.»
«Wer ist wir?»
«Die, mit denen ich zusammen spiele.»
«Und wer ist das?»
«Viele verschiedene Leute. Wir fordern die Wirklichkeit heraus. Erweitern unsere persönliche Intelligenz. Erweitern die dauernden kleinen Gespräche, die wir mit uns selbst führen.» Jetzt sprudelte das alles nur so aus ihm heraus. Ganz einwandfrei wuchs auch sein Selbstvertrauen. «Das tun alle. Sie auch», sagte er und nickte Cato Isaksen zu. «Da bin ich mir ganz sicher. Aber vielleicht tun Sie das nicht ganz bewusst.»
Cato Isaksen schwieg.
«Schreiben Sie auf, was Sie denken», sagte André Hansen. «Dann bekommen Sie besseren Kontakt zum kreativen Kern Ihrer unbewussten Sinne.»
«Was für Menschen beschäftigen sich damit?»
André Hansen zuckte mit den Schultern. «Alle Arten», sagte er. «Auch Erwachsene. Einer von uns hat zwei Kinder.»
«Aber die meisten sind Jugendliche so wie du.»
André Hansen nickte.
«Auch Mädchen?»
«Jungen, fast nur Jungen», sagte der andere. «Wir nennen uns Brüder. Bei uns macht nur ein Mädchen mit.»
«Wie heißt sie?»
Plötzlich war André Hansen auf der Hut. Vielleicht sollte das ja eine Fangfrage sein.
Der Ermittler sah, dass der Junge zögerte. «Es ist nicht so wichtig. War nur so eine Frage.»
«Solvi Steen», sagte André Hansen. «Sie ist fünfzehn.»
Diesen Namen hatte Maiken am Vortag auch erwähnt.
«Kathrine Bjerke ...», begann Cato Isaksen.
«Damit haben wir nichts zu tun», sagte André Hansen eilig. Er wirkte plötzlich noch
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