Spurlos in der Nacht
wirklich mal wissen.»
«Das kommt darauf an», sagte Cato Isaksen mit kalter Stimme.
Als er wieder im Auto saß, rief er Ellen Grue an. Eigentlich wollte er nur ihre Stimme hören, behauptete aber, sich nach der Blutanalyse erkundigen zu wollen. Sie sagte, die werde erst nach Ostern vorliegen. Er sagte, das dauere zu lange. Sie lachte.
«Du musst dich in Geduld fassen», sagte sie. Er erzählte, wo er war und was er als nächstes vorhatte. Als er das Neubaugebiet im Tranevei erreichte, beendete er das Gespräch.
Er fand Solvi Steen im Tranevei 10. Da sie auch Ferien hatte, war sie allein zu Hause. Das war ihm nur recht. Sie war die weibliche Ausgabe von André Hansen. Auch sie trug Schwarz. Schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt, schwarze breite Schuhe. Schwarze Haare und schwarze Schminke.
«Schön blöd, dass Sie hergekommen sind», sagte sie und führte ihn ins Wohnzimmer.
«Ach», sagte er und schaute sich um. Auf dem Wohnzimmertisch standen gelbe Osterküken. Daneben stand eine kleine Flasche Nagellack.
«Meine Eltern werden glauben, ich sei total durchgeknallt.»
«Und das bist du nicht?»
«Natürlich nicht.» Sie wurde lauter. «Wollen Sie mein Zeugnis sehen, oder was?»
Cato Isaksen setzte sich auf eine Stuhlkante. «André Hansen sagt, du bist das einzige Mädchen in ihrer Gruppe.»
«Na und?», fragte sie.
«Hast du Kathrine Bjerke gekannt?»
«Gekannt wäre übertrieben. Wir gehen auf dieselbe Schule.»
«Aber nicht in dieselbe Klasse?»
«Sie ist ein Jahr jünger als ich.»
«Aber du hast gewusst, wer sie war?»
«Ist sie tot, wo Sie sagen?»
Cato Isaksen musste einfach lächeln. Solvi Steen war ein harter Brocken. Er schüttelte den Kopf. «Wir wissen noch nicht, was passiert ist», sagte er.
«Sie wissen nicht, ob sie sich umgebracht hat oder ob sie ermordet worden ist, meinen Sie das so?»
«Nein.»
«Vielleicht war sie es ja selbst. Ich hab auch schon mal mit dem Gedanken gespielt. In schwierigen Zeiten», fügte sie hinzu.
Cato Isaksen sah sie an.
«Manchmal isoliere ich mich», sagte sie und schaute aus dem Fenster. Die Schlagader an ihrem Hals wurde sichtbar. «Ich habe dann so ein schreckliches Gefühl, dass nichts mehr von Bedeutung ist. Oder so. Kennen Sie das auch?»
Cato Isaksen musterte die schmächtige Gestalt mit den schwarzen Haaren. Warum wollte sie das wissen?
Sie wiederholte ihre Frage. Legte den Kopf ein wenig in den Nacken und sah ihn aus schmalen, stark geschminkten Augen an.
«Nein», sagte er.
Sie lachte kurz. «Das ist das Tolle an unserer Gruppe. Da können wir ganz viel Dreck ablassen. Sie sollten das auch mal probieren. Der Polizei würde es bestimmt auch gut tun. Das Leben wird dabei sozusagen in den Hintergrund geschoben.»
«Das klingt seltsam.»
«Ist es aber nicht. Das Leben ist gewissermaßen anderswo.» Sie zog die Beine auf den Sessel und schaute in eine andere Richtung. «Das ist doch so ein Ausdruck, der viel benutzt wird, nicht wahr?»
«Das Leben ist anderswo. Ja, vielleicht», sagte der Ermittler ernst. «Hast du nie Angst?»
«Doch.» Sie wandte sich ihm wieder zu und richtete ihre dunklen Augen auf ihn. «Das ist doch gerade das Schöne daran. Ich brauche im wirklichen Leben keine Grenzen auszutesten, Drogen zu nehmen oder so. Ich kriege meinen Kick aus den Welten, in die wir eintreten. Es ist wirklich unglaublich. Wir haben vor zwei Wochen bei Regen gespielt. Ich dachte, ich müsste erfrieren. Aber wissen Sie was, ich habe den Teufel gesehen. Einfach so. Plötzlich stand er vor mir.» Sie hob demonstrativ die Hände. Spreizte die Finger mit den schwarz lackierten Nägeln zu zwei kleinen Fächern. «Das war so, wie von irgendwas high zu sein. Niemand spielte diese Rolle, es war einfach ein Bild, das ganz plötzlich vor einem Baumstamm auftauchte. Man muss alle Intelligenzen nutzen, die man hat.»
«Ach.»
«Ja, denn wir haben zehn, wissen Sie das nicht?»
«Nein.»
«Die umfassen alles, vom Kreativen bis zum Physischen und Sozialen. Die physische Intelligenz kann man so trainieren, keine Furcht mehr zu empfinden. Über meine persönliche Intelligenz möchte ich nicht laut reden. Aber ich bin dabei. Und die sinnliche erforsche ich gerade. Und bin dabei schon ein ganzes Stück weiter gekommen.»
Cato Isaksen betrachtete sein Gegenüber. Er sah eine sehr große Ähnlichkeit mit André Hansen. Die Art, wie sie sich ausdrückten, zum Beispiel. Das Mädchen war fünfzehn, redete aber wie eine überreife
Weitere Kostenlose Bücher