Spurlos in der Nacht
fühlte sich heiß und kalt zugleich. Sie durfte nicht sehen, wie unsicher er war. Rasch zog seine Hand zurück. «Verzeihung», sagte sie. «Zeit für die Heimfahrt», sagte er.
43
Es war doch möglich, dass da draußen noch immer jemand nach ihr suchte. Ihre Mutter würde niemals aufgeben, da war sie sich sicher. Kathrine packte das schmutziggelbe Kissen und hob es an ihren Hals. Was hatte sie ihrer Mutter für Dummheiten gesagt. Idiotin, miese Kuh hatte sie sie genannt. Und sogar Nutte, einmal, aber da hatte Tage sie wütend am Arm gepackt, sie die Treppe hinaufgezogen und sie in ihrem Zimmer eingesperrt. Irgendwie hatte das gut getan. Tage kümmerte sich um ihre Mutter. Er gab sich alle Mühe. Bei seiner eigenen Familie sah das anders aus. Mit der war er schon seit vielen Jahren zerstritten. Ihre Mutter hatte einmal gesagt, dass ihm das arg zu schaffen machte. Tage schmierte Kathrines Pausenbrote. Er brachte abends von der Arbeit immer besonders guten Aufschnitt mit. Kathrine sagte ihm oft, dass sie die Brote einfach wegschmiss. Sie wusste, dass ihn das verletzte, aber er schmierte weiterhin für sie Brote. Es stimmte übrigens gar nicht. Sie aß die Brote immer, wenn auch nicht immer alle, denn sie musste doch dünn bleiben.
Beim Einschlafen dachte sie an den Körpergeruch ihrer Mutter. Süß und warm. Dachte an ihre Stimme. Hörte sie in Gedanken immer wieder. Ließ die Mutter reden und ihr Dinge erzählen, die sie sich ausdachte. Sie gab auch Antwort und die Mutter lachte und sagte, «das kommt schon alles in Ordnung». Kathrine hatte nur so wenige Erinnerungen an ihre Kindheit, sie hatte das Gefühl diese Jahre verloren zu haben. Sie konnte sich an Omas Garten erinnern, an ihre Freundinnen, an die Familie. Aber die Gesichter waren verschwommen. Sie erinnerte sich an das hohe Gras im Sommer. An die Blumen, die in den Beeten sozusagen in Abteilungen eingeteilt waren, an die Mahlzeiten am Gartentisch. An die Geborgenheit und das konstante Dröhnen der Autos, die draußen am Zaun vorbei fuhren. Sie durfte oft auf dem Dachboden spielen. Dann zog sie die schönen alten Kleider aus Truhen und Kartons. Sie verkleidete sich und kam sich vor wie ein Engel. Einige Kleider waren so alt, dass die Seide brüchig geworden war. Und vor dem kleinen Dachbodenfenster sah sie die Wolken, die vorübertrieben und die Baumkronen, die sachte im Wind wogten.
Dieser Raum hier war grau. Auch die Luft war grau. Alles war grau und düster und eingesperrt. Was dachte Maiken jetzt? Hatte sie sich schon eine neue Freundin gesucht? Wenn Maiken doch nur wüsste, wie stolz Kathrine darauf war, dass sie ihre Freundin sein durfte. Maiken war so hübsch, so beliebt, so tüchtig.
Kathrine dachte an ihren Vater. Sie war acht Jahre alt gewesen, als er ausgezogen war. An den Tag konnte sie sich noch genau erinnern. Es war ein Sonntag. Die Eltern hatten sie ins Wohnzimmer gerufen. Sie hatte ihnen angesehen, dass etwas nicht stimmte, und geglaubt, jemand sei gestorben. Sie hatten erzählt, dass sie eine Zeit lang getrennt wohnen wollten, nur um zu sehen, wie das wäre, sagten sie. Aber Kathrine wusste, dass es für immer sein würde. Sie fühlte sich schuldig, glaubte, nicht brav genug gewesen zu sein.
Kathrine Bjerke lehnte an der grauen Mauer und weinte. Jetzt hätten sie sie sehen sollen, alle, die sie für die Zäheste und Coolste, die Stärkste und Frechste auf der Welt hielten. Jetzt hätte Tage sie sehen sollen. Jetzt hätte Mama sie sehen sollen. Jetzt hätte Kenneth sie sehen sollen. Jetzt hätte Oma sie sehen sollen.
Die Angst hatte sich in ihre Brust gebohrt wie eine eiserne Kralle. Sie fror ganz schrecklich, obwohl es doch gar nicht kalt war. In der einen Ecke stand ein Heizkörper. Eine alte Heizsonne, mit orangenen Glühfäden, wenn sie eingeschaltet war. Sie dachte, sie könnte den Arm darauflegen und sich ein Brandzeichen verpassen. Aber wozu hätte das eigentlich gut sein sollen?
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Der Mittsommertag fiel auf einen Samstag. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Die Meteorologen meldeten, im Norden wie im Süden sei der Sommer gekommen, und es werde so bleiben, jedenfalls in den kommenden Wochen. Am Wochenende würde Georg kommen, und deshalb freute sich Cato Isaksen darüber, dass sie von den Nachbarn zu einem Bootsausflug eingeladen worden waren, dort gab es einen Jungen in Georgs Alter.
Aber er war auch nervös. Nachdem er darum gebeten hatte, über die Unternehmungen von Nils Bergmans und André
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