Spurlos
bekommen, dachte: und wenn der Typ schrecklich oder langweilig ist, dann sitze ich da mit ihm beim Abendessen… - nein! Ich hab’ im Hintergrund gewartet und ihn mir erstmal angesehen. He, Jeannie!“ Wendy sah sie mitfühlend an. „Mach’ dir doch wegen so einem Typen keine Gedanken! Es gibt doch Männer wie Sand am Meer.“
„Aber die sind meistens verheiratet oder haben irgendwelche Macken!“ Sie verstummte. „Ach, Wendy, du hast ja Recht“, sie lächelte jetzt, „ich vergess’ ihn!“
„Gut so!“ Wendy tätschelte ihren Arm und sah über Jeannies Schulter zur Tür. „Kundschaft!“, flüsterte sie und zwinkerte Jeannie zu, „den überlasse ich dir gleich mal …“
8
Endlos lang erschienen Shane die geraden Straßen, bis er endlich an der Siedlung erreichte, in der der Aborigine lebte, der die Leiche gefunden hatte. Er wendete den Dienstwagen, einen weißen Mitsubishi, und parkte am Straßenrand. Gegenüber breitete sich dichtes Buschwerk aus.
F euchte Hitze überfiel ihn. Eigentlich sollte er sich inzwischen daran gewöhnt haben, aber vielleicht lag es auch an seiner gesamten körperlichen Verfassung. Die Narbe an seinem Bein und auch die an der Schulter schmerzten in diesem Klima mehr als im trockeneren und kühleren Brisbanes.
Er schlug die Autotür zu. Vor ihm begann ein schmaler Pfad, auf dem sich die Reifenspuren gefunden hatten. Er folgte ihm, duckte sich unter den Zweigen der dichten Büsche. Die Erde unter seinen Sohlen war trotz der hohen Luftfeuchtigkeit recht hart. Nach etwa zwanzig Metern konnte er die Straße und seinen Wagen nicht mehr sehen. Hinter einem tief nach unten gebeugten Baum, den er von einem der Fotos kannte, lichtete sich das Buschwerk. Er blieb dort stehen und sah sich um.
Dem Mörder kam es nicht darauf an, dass die Leiche gefunden wurde – sonst hätte er einen weniger verborgenen Platz gesucht. Nein, dachte Shane, er sucht die Plätze aus, weil er entweder dort in Ruhe sein Ritual durchführen kann, oder weil die Plätze im Ritual eine Bedeutung haben. Zwei Schritte von sich entfernt bemerkte er niedergedrücktes Gras. Hier hatte Valerie Tates Leiche gelegen. Er ging näher, sah hinauf. Über ihm hingen nur wenige Zweige, der Blick in den Himmel war frei. Ungefähr drei Meter links von ihm breitete sich eine versumpfte Wasserstelle aus. Er wusste, dass Wasserstellen in einigen Naturreligionen eine große Rolle spielten. Hydromantie nennt man das Wahrsagen mithilfe von Wasser. Alle Mythologien kennen Wassergottheiten, wie Nymphen, Feen, Wassergeister, die in Quellen, Seen, Teichen, Bächen oder Flüssen leben. Vor allem in der irischen Volkskunst findet man solche Geister.
Er erinnerte sich an einen Brauch, von dem er im Zusammenhang mit einem anderen Fall gelesen hatte.
Man ließ das Hemdchen eines kranken Kindes im Quellwasser schwimmen, um zu erfragen, ob es überleben wird. Ging das Hemd unter, konnte man die Hoffnung auf Genesung begraben. Heiratswillige junge Mädchen warfen Haarnadeln in ein Gewässer, um in Erfahrung zu bringen, ob sie im Laufe des Jahres heiraten werden, oder sie tauchten einen Spiegel ein, um das Gesicht ihres künftigen Mannes zu sehen.
Bei den Aborigines galten Wasserstellen als Orte, an denen die Seele wieder in die Erde eindrang, oder wo sie aus der Erde aufstieg und sich einen Körper suchte. McNulty war Aborigine gewesen, und die beiden Felsbrocken am Tatort in Brisbane waren vor Tausenden von Jahren durch Wasser dorthin transportiert worden.
Warum also hier? Vogellaute drangen heran, es knackte, raschelte, auf der Straße näherte sich ein Truck. Das Brummen schwoll an, dann wurde es wieder leiser.
Er entdeckte die Stelle am Fuß eines dürren Baumes, wo die Organe vergraben gewesen sein mussten. Die Leute von der Spurensicherung hatten das Loch nicht wieder zugeschüttet.
Er blieb noch eine Weile stehen, hoffte auf eine Eingebung oder Entdeckung, doch als sich keines von beiden einstellte, kehrte er zum Wagen zurück. Im Innern war es heiß und schwül geworden. Er ließ die Fenster herunter. Eine andere Bedeutung von Wasserstellen fiel ihm ein. Zweifelten die Germanen an der Treue ihrer Frauen, legten sie das Neugeborene auf einen Schild, den sie zu Wasser ließen. Ging das Kind nicht unter, war dies der Beweis, dass es legitim war. Ging es unter, war es für die Ehemänner, die sich betrogen glaubten, ein Zeichen der Gerechtigkeit. Welche Fragen stellte der Mörder?
9
„Dieser Mann war ganz klar gewalttätig. Wir
Weitere Kostenlose Bücher