Spurschaden
Pater die unscheinbare Schublade des Lesetischs wieder zu. Gleichzeitig verschwand damit der in Samt eingeschlagene hölzerne Penis aus seinem Sichtfeld. Er wusste, was nun als Nächstes geschehen würde. Mehr als deutlich hatten sich die Bilder regelrecht in sein Gedächtnis geritzt. Den nun folgenden Akt nannte er »Die Offenbarung«.
11
Der junge Kommissar liebte die Winterzeit. Ein Liegestuhl am Strand und brennende Hitze – das lag nicht in seiner Natur. Vor wenigen Wochen noch hatte er mit seiner Lebensgefährtin einen Schneemann gebaut, hatten sie sich beide wie Kinder im weichen Schnee gewälzt; direkt vor der Haustür.
Nein, er konnte Judith nicht böse sein. Er hatte von vorneherein von ihrem labilen psychischen Zustand gewusst, von ihrer verletzten Seele. Das war es doch, was ihn damals verführt hatte: die tiefe Traurigkeit in ihren Augen, diese Verletzlichkeit.
Als er das erste Mal über die Narben an ihrem Unterarm strich, war es das Unvorstellbare, das ihn faszinierte. Doch sie hatte so unendlich viel mehr zu bieten neben dieser Traurigkeit: Stimmungsschwankungen, die sie zum fröhlichsten Menschen auf dieser Erde machen konnten – war es auch nur für kurze Zeit. Und doch. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass sie ihn nicht einweihen würde, falls sie vorhätte, einem Ungeborenen das Leben zu nehmen.
Jetzt schaute er auf das Kloster, das klein und wie in Zuckerwatte gehüllt unter ihm lag. Genau jetzt war der Moment, in dem er wusste, dass er Judith verzeihen konnte, aber sie als Frau an seiner Seite verloren hatte. Sie würde einen stärkeren Partner brauchen. Jemand, der noch mehr Kraft besaß als er. Seine Definition von Mitleid war immer eine positive: Mit jemandem leiden. Doch genau das konnte er nicht länger – Judith hatte eine der wenigen Grenzen überschritten. Er wollte nicht um jeden Preis der Welt ein Kind. Aber es absolut ausschließen, nein, das mochte er keinesfalls.
Thomas spürte ein leichtes Rütteln an seinem Knie und sah noch kurz eine Hand.
»Sie fliegen nicht gerne, oder?« Der Kopilot grinste ihn an. »Mir ist das sofort aufgefallen. Aber Sie haben es gleich überstanden. Dort vorne auf der Lichtung …« Der Hubschrauber wurde plötzlich um etliche Meter nach links versetzt. Eine kräftige Windböe hatte ihn erfasst und löste Alarm aus; doch nur für einige Sekunden.
»Alles O.K.!«, klang wenig später durch den Kopfhörer die Stimme des Kopiloten betont beruhigend. Das Grinsen war diesem allerdings vergangen. Thomas konnte das zwar nicht sehen, aber er dachte es sich. Dann setzte der Hubschrauber zur Landung an. Ein kurzes Knirschen – die Kufen des Fluggeräts versanken einen halben Meter im Schnee.
»Beim Aussteigen bitte aufpassen … da liegt extrem viel Neuschnee!« Der Kopfhörer rauschte. »Und immer schön die Köpfe einziehen!«
Der anfangs unbekümmerte Unterton in der Stimme des Kopiloten schien verschwunden. Thomas zog den Helm ab und zwinkerte seinem Kollegen zu.
»Die Landung war wohl doch nicht so einfach gewesen«, musste er ihn regelrecht anschreien. Es war nicht sein erster Flug, aber das Grundgeräusch der beiden Motoren kam ihm irgendwie besonders laut vor.
Sven schmunzelte leicht abwesend.
Thomas klopfte mehrmals auf den Helm seines Kollegen. »Helm ab!«
Sichtlich irritiert schaute dieser ihn an.
»Wir müssen jetzt raus!« Thomas drückte mit dem Zeigefinger gegen die Scheibe, machte einige wirre Bewegungen mit seinen Händen. Sven nickte.
»Mein Gott, er hat es endlich kapiert«, dachte Thomas. Den Piloten gab er noch ein Handzeichen als Geste des Dankes, und kurz darauf sackte er mit seinen Stiefeln tief im Schnee ein. Es war ein gutes Gefühl. Hier fühlte er sich sicher.
In gebückter Haltung schritt er aus dem unmittelbaren Umfeld des Hubschraubers; Sven folgte ihm. Den Schal hatte Thomas nicht nur wegen der Kälte tief ins Gesicht gezogen. Er wollte so wenig wie möglich von diesen Abgasen einatmen. Nur zu deutlich waren diese in der sonst so reinen Bergluft sichtbar.
»Keiner da?«, fragte Sven seinen Vorgesetzten verwundert und folgte dessen Blicken, tat es ihm gleich, das Umfeld genauer in Augenschein zu nehmen – eine kleine Lichtung, mitten im Wald. »Soll ich die Piloten fragen?«
»Gute Idee! Aber leider etwas spät!« Der Kommissar packte den Kollegen an der Schulter und gemeinsam drehten sie dem startenden Hubschrauber den Rücken zu. Dann spürten sie bereits den kräftigen Luftstrom. Die obere
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