Sputnik Sweetheart
linken in die rechte Hand. »Einer Sache bin ich mir sicher – du vielleicht nicht, aber ich: Irgendwann wirst du einen fantastischen Roman schreiben. Ich weiß es, denn ich habe deine Sachen ja gelesen.«
»Ist das dein Ernst?«
»Mein völliger Ernst, ohne Schmeichelei«, sagte ich. »Ich würde dich da nie belügen. Einige Passagen in dem, was du geschrieben hast, sind unglaublich beeindruckend. Als ich im Mai deinen Text über die Küste gelesen habe, konnte ich das Rauschen des Windes hören und die salzige Luft riechen. Ich habe die milde Sonnenwärme auf der Haut gespürt. Wenn du ein kleines Zimmer voll Zigarettenqualm beschreiben würdest, bekäme man beim Lesen bestimmt einen Hustenanfall und Augenbrennen. Eine so lebendige Prosa bringen nur wenige zustande. Deine Sätze haben ein Eigenleben – als würden sie selbstständig atmen und sich bewegen. Vielleicht fällt es dir im Moment nur noch schwer, sie zu einem organischen Ganzen zusammenzufügen, aber deswegen solltest du auf keinen Fall den Klavierdeckel schließen.«
Sumire schwieg für zehn, fünfzehn Sekunden. »Und das sagst du wirklich nicht bloß, um mich zu trösten oder aufzumuntern?«
»Nein, das ist eine unverrückbare Tatsache.«
»Wie die Moldau?«
»Wie die Moldau.«
»Danke«, sagte Sumire.
»Keine Ursache«, sagte ich.
»Du bist manchmal unheimlich süß. Wie Weihnachten, Sommerferien und ein neugeborenes Hündchen in einem.«
Wie immer, wenn mich jemand lobt, murmelte ich etwas Unverbindliches.
»Eins ärgert mich«, sagte Sumire. »Nämlich, dass du eines Tages ein nettes Mädchen heiraten und mich ganz vergessen wirst. Und dass ich dich dann nachts nicht mehr anrufen kann, oder?«
»Du kannst mich ja am Tag anrufen.«
»Am Tag! Das bringt’s doch nicht. Du kapierst aber auch gar nichts.«
»Du auch nicht. Die meisten Leute auf der Welt arbeiten, wenn die Sonne scheint. Nachts machen sie das Licht aus und schlafen«, verteidigte ich mich. Natürlich hätte ich genauso gut allein in einem Kürbisfeld stehen und Schäfergedichte aufsagen können.
Sumire ignorierte mein Aufbegehren. »Vor kurzem habe ich in der Zeitung gelesen, dass man als Lesbe geboren wird. Im Gegensatz zu normalen Frauen haben Lesben einen Knochen im Ohr, der den ganzen Unterschied ausmacht. Ein winziges Knöchelchen mit einem komplizierten Namen. Also wird man nicht zur Lesbe, sondern man ist genetisch dazu bestimmt. Ein amerikanischer Arzt hat das entdeckt. Keine Ahnung, wie er darauf gekommen ist, aber seither beschäftigt mich dieser unnütze kleine Knochen. Welche Form wohl mein kleiner Ohrknochen hat?«
Unschlüssig schwieg ich. Einen Moment herrschte Stille, wie wenn sich frisches Öl in einer Pfanne ausbreitet.
»Bist du dir ganz sicher, dass du Miu sexuell begehrst?« fragte ich schließlich.
»Hundertprozentig. Wenn ich mit ihr zusammen bin, fängt der kleine Knochen an zu klappern wie ein Windspiel aus hauchdünnen Muscheln. Dann wünsche ich mir wie verrückt, dass sie mich in die Arme nimmt und alles seinen Lauf nimmt. Wenn das nicht sexuelle Begierde ist, dann fließt wohl Tomatensaft in meinen Adern.«
»Hm«, machte ich. Wieder fiel mir keine passende Antwort ein.
»Dadurch erklärt sich im Nachhinein eine Menge. Warum ich kein Interesse an Sex mit Jungen habe. Warum ich nichts spüre. Warum ich immer das Gefühl hatte, anders zu sein als andere.«
»Darf ich dazu mal meine Meinung sagen?« fragte ich.
»Natürlich.«
»Eine so einleuchtende, logische Erklärung hat bestimmt einen Haken, meiner Erfahrung nach. Wie jemand mal gesagt hat: Ein Sachverhalt, der sich mit einem einzigen Buch erklären lässt, bräuchte eigentlich überhaupt nicht erklärt zu werden. Damit will ich nur sagen, dass man keine voreiligen Schlüsse ziehen sollte.«
»Ich werd’s mir merken«, sagte Sumire.
Damit nahm unser Gespräch ein abruptes Ende.
Ich stellte mir vor, wie sie den Hörer auflegte und das Telefonhäuschen verließ. Der Zeiger meiner Uhr stand auf halb vier. Nachdem ich in der Küche noch ein Glas Wasser getrunken hatte, kuschelte ich mich wieder ins Bett und schloss die Augen, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Als ich die Vorhänge zurückzog, sah ich den Mond bleich und stumm wie ein Waisenkind am Himmel stehen. Einschlafen würde ich wohl nicht mehr. Ich machte mir frischen Kaffee, setzte mich mit einem Stuhl ans Fenster und knabberte Kräcker und Käse. Mit einem Buch in der Hand wartete ich darauf, dass es hell
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