Sputnik Sweetheart
bestellte, prüfte sie die Weinkarte bis ins kleinste Detail. Sie selbst trank nie mehr als ein Glas. Obwohl sie Sumire ermutigte, so viel zu trinken, wie sie wollte, schafften die beiden nie eine ganze Flasche, sodass unweigerlich immer die Hälfte eines teuren Weins übrig blieb, aber das störte Miu nicht.
»Es ist doch nicht nötig, für uns beide eine ganze Flasche zu bestellen. Wir trinken ja nicht mal die Hälfte davon«, hatte Sumire einmal eingewandt.
»Schon in Ordnung«, hatte Miu sie lachend beruhigt. »Je mehr wir stehen lassen, desto mehr haben die Angestellten davon, vom Sommelier über den Oberkellner bis zum Lehrling, der das Wasser nachschenkt. Die Folge ist, dass sich alle an seinen Geschmack erinnern, sodass es gar keine Verschwendung war, den guten Wein stehen zu lassen.«
Miu prüfte die Farbe des 1986er Medoc und kostete ihn dann so bedächtig, als prüfe sie einen literarischen Stil.
»Es ist mit allem so. Letztlich kann man nur etwas lernen, wenn man es am eigenen Leibe erfährt und selbst bezahlt. Aus Büchern kann man nichts lernen.«
Angeregt durch ihr Vorbild hob Sumire ihr Glas, nahm sehr aufmerksam einen Schluck und ließ ihn langsam durch ihre Kehle rinnen. Einen Moment lang verweilte der angenehme Geschmack in ihrem Mund, aber nach einigen Sekunden verflüchtigte er sich wie Morgentau in der Sommersonne, und die Zunge war bereit für den Geschmack des nächsten Bissens. Bei jedem Essen mit Miu lernte Sumire etwas dazu und musste sich verblüfft eingestehen, wie wenig sie wusste und kannte.
»Bisher wollte ich nie jemand anders sein als ich selbst«, sprudelte es aus Sumire einmal heraus, vielleicht weil sie ein bisschen mehr Wein getrunken hatte als sonst. »Inzwischen denke ich manchmal, dass ich gern so wäre wie Sie.«
Miu hielt einen Augenblick den Atem an. Dann hob sie nachdenklich ihr Glas und nahm einen Schluck. Die Spiegelung des Weines ließ ihre Augen einen Moment lang tiefrot erscheinen. Ihr sonst so kultivierter Gesichtsausdruck war wie weggewischt.
»Sie können es natürlich nicht wissen«, sagte Miu ruhig und stellte das Glas wieder auf den Tisch. »Was Sie hier vor sich sehen, ist nicht mein wahres Ich. Seit vierzehn Jahren bin ich nur noch ein halber Mensch. Ich wünschte, ich wäre Ihnen begegnet, als ich noch vollständig war. Aber es hat keinen Sinn, immer weiter darüber nachzugrübeln.«
Die Überraschung verschlug Sumire die Sprache, und sie versäumte es, Miu die nächstliegende Frage zu stellen. Was war vor vierzehn Jahren geschehen? Und was hieß überhaupt »ein halber Mensch«? Das Ergebnis dieser rätselhaften Offenbarung war, dass sich Sumires Verlangen nach Miu noch steigerte. Was für eine geheimnisvolle Frau, dachte Sumire.
Aus ihren Gesprächen konnte Sumire sich einige Fakten über Miu zusammenreimen. Mius Mann war Japaner und fünf Jahre älter als sie. Da er zwei Jahre als Austauschstudent an der Universität Seoul Wirtschaft studiert hatte, sprach er fließend Koreanisch. Er war ein warmherziger Mensch, tüchtig in seinem Beruf und die treibende Kraft in Mius Unternehmen. Obwohl es ursprünglich ein reiner Familienbetrieb gewesen war, gab es niemanden, der ihn als Eindringling empfand und schlecht über ihn sprach.
Von klein auf hatte Miu hervorragend Klavier gespielt. Als Teenager gewann sie zahlreiche Talentwettbewerbe, sie ging aufs Konservatorium, studierte bei einem berühmten Pianisten und wurde dank seiner Empfehlung an einer Musikhochschule in Frankreich angenommen. Ihr Repertoire reichte von den Spätromantikern wie Schumann und Mendelssohn bis Poulenc, Ravel, Bartok und Prokofieff. Ihr Spiel verband eine starke gefühlvolle Klangfärbung mit einer entschlossenen, perfekten Technik. Während des Studiums gab sie viele Konzerte, die sämtlich von der Kritik gut aufgenommen wurden. Vor ihr schien eine glänzende Zukunft als Konzertpianistin zu liegen, doch während ihres Aufenthalts im Ausland erkrankte ihr Vater so schwer, dass Miu ihren Klavierdeckel zuklappte und nach Japan zurückkehrte. Und nie wieder eine Taste anrührte.
»Aber wie konnten Sie das Klavierspielen so einfach aufgeben?« fragte Sumire unsicher. »Vielleicht mögen Sie ja nicht darüber sprechen – nur – ich finde es etwas ungewöhnlich. Sie haben doch so viel geopfert, um Pianistin zu werden, oder?«
»Nein, ich habe nicht viel geopfert«, sagte Miu ruhig. »Sondern alles. Einschließlich der Entwicklung meiner Persönlichkeit. Das Klavier verlangte
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