Sputnik Sweetheart
parken und dann bei mir klingeln.
»Bis vier habe ich Zeit«, sagte ich ohne weitere Erklärungen.
Sumire trug eine ärmellose weiße Bluse, einen dunkelblauen Minirock, eine kleine Sonnenbrille und als einzigen Schmuck eine winzige Plastikhaarspange. Eine sehr schlichte Aufmachung. Sie hatte auch kaum Make-up aufgetragen und zeigte sich der Welt, wie sie war. Ich weiß nicht wieso, aber auf den ersten Blick erkannte ich sie gar nicht. Unsere letzte Begegnung lag erst drei Wochen zurück, und trotzdem wirkte das Mädchen, das mir gegenübersaß, wie aus einer anderen Welt, ganz anders als die Sumire, die ich von früher kannte. Sie war – gelinde gesagt – wunderschön, wie plötzlich erblüht.
Ich bestellte ein kleines Bier vom Fass und sie einen Traubensaft.
»In letzter Zeit habe ich Schwierigkeiten, dich wiederzuerkennen«, sagte ich.
»Das liegt am Alter«, erwiderte sie wie eine Fremde und sog an ihrem Strohhalm.
»An was für einem Alter?« fragte ich.
»Verspätete Adoleszenz vielleicht. Wenn ich morgens aufstehe und in den Spiegel schaue, habe ich das Gefühl, eine andere Person sieht mich an. Wenn ich nicht aufpasse, überhole ich mich selbst und finde mich nicht wieder.«
»Wäre es dann nicht besser, du würdest dir freien Lauf lassen?«
»Aber wo soll ich hin, wenn ich mich selbst verliere?«
»Für ein paar Tage kannst du bei mir unterkommen – die Person, die dich verloren hat.«
Sumire lachte.
»Ganz im Ernst«, sagte sie. »Wohin kann ich schon gehen?«
»Weiß ich nicht. Aber du hast aufgehört zu rauchen, trägst schicke Kleider, sogar zueinander passende Söckchen, und kannst Italienisch. Du kennst dich mit Wein aus, kannst mit dem Computer umgehen, schläfst in der Nacht und stehst morgens auf – zumindest vorläufig. Das muss ja irgendwohin führen.«
»Aber ich kann noch immer keine Zeile schreiben.«
»Alles hat seine guten und seine schlechten Seiten.«
Sumire biss sich auf die Lippen. »Hältst du mich für eine Überläuferin?«
»Eine Überläuferin?« Einen Moment lang verstand ich nicht, wie sie das meinte.
»Eine Person, die ihre Überzeugungen verrät.«
»Du meinst, die arbeitet und sich schick macht, statt Romane zu schreiben?«
»Genau.«
Ich schüttelte den Kopf. »Bisher hast du geschrieben, weil du schreiben wolltest. Wenn du jetzt nicht mehr schreiben willst, brauchst du es nicht zu tun. Deshalb brennt doch kein Dorf ab und kein Schiff geht unter. Auf Ebbe folgt weiterhin Flut, und die Revolution verspätet sich deswegen auch nicht um fünf Jahre. Ich glaube nicht, dass man dich als Überläuferin bezeichnen kann.«
»Als was dann?«
Ich schüttelte wieder den Kopf. »Dieses Wort hat bestimmt schon ewig niemand mehr benutzt. Total veraltet und aus der Mottenkiste. Vielleicht gibt es irgendeine übrig gebliebene Kommune, die noch von ›Überläufern‹ spricht. Ich kenne ja die Begleitumstände nicht genau, aber eins weiß ich, wenn du nicht mehr schreiben willst, dann musst du das nicht.«
»Kommune – so wie bei Lenin?«
»Lenin hat die Kolchosen geschaffen. Die gibt es wahrscheinlich auch nicht mehr.«
Sumire dachte einen Moment lang nach. »Es ist ja gar nicht so, dass ich nicht mehr schreiben will«, sagte sie. »Das Problem ist, dass ich nicht kann, auch wenn ich es versuche. Ich setze mich an den Schreibtisch, aber es kommen mir weder Ideen noch Wörter oder Szenen in den Sinn. Nichts. Noch vor kurzem wusste ich nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören sollte, so viel ist mir eingefallen. Was ist nur passiert?«
»Das fragst du mich?«
Sumire nickte.
Ich nahm einen Schluck von meinem kalten Bier und ordnete meine Gedanken.
»Vielleicht bist du dabei, einen neuen fiktionalen Rahmen für dich zu schaffen, und damit so beschäftigt, dass du deine Gefühle nicht in geschriebene Worte umsetzen musst. Oder du hast einfach keine Zeit dafür.«
»Keine Ahnung. Aber tust du das denn? Einen fiktionalen Rahmen für dich schaffen?«
»Die meisten Leute auf der Welt tun das. Ich natürlich auch. Du musst ihn dir vorstellen wie die Übersetzung bei einem Auto. Du brauchst etwas, das zwischen dir und der harten Wirklichkeit vermittelt. Zahnräder, welche die von außen anstürmende Kraft abschwächen, regulieren und transformieren können. So schützt du dein sensibles Ich und sorgst dafür, dass es intakt bleibt. Verstehst du, was ich meine?«
Sumire nickte kurz. »Du willst sagen, ich habe mich diesem neuen Rahmen noch nicht richtig
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