Sputnik Sweetheart
meine Tage bekommen. Hm. Natürlich hilft es nichts, dir das zu schreiben, aber immerhin war es ein Erlebnis.
Gestern Abend haben wir ein Konzert besucht. So außerhalb der Konzertsaison hatte ich nicht viel erwartet, aber es war ein herrliches Musikerlebnis. Martha Argerich gab das Klavierkonzert Nr. 1 von Franz Liszt. Ich liebe dieses Stück. Dirigiert von Giuseppe Sinopoli. Die Musik war so volltönend und fließend, dass ich aufrecht auf meinem Platz saß. Es war eine virtuose Darbietung, für meinen Geschmack vielleicht sogar ein bisschen zu perfekt und brav. Für mich könnte dieses Stück etwas kecker und schwungvoller gespielt werden, so wie auf einer Dorfkirmes vielleicht. Auf die komplizierten Passagen kann ich verzichten, mir genügt es, wenn mir das Herz hüpft. In diesem Punkt sind Miu und ich uns einig. In Venedig findet ein Vivaldi-Festival statt, und wir überlegen, ob wir hinfahren sollen. Miu und ich können uns endlos über Musik unterhalten, wie du und ich über Literatur.
Dieser Brief wird ziemlich lang. Wenn ich einmal einen Stift zur Hand nehme und anfange zu schreiben, kann ich nicht mehr aufhören, das war schon immer so. Es heißt ja, wohlerzogene Mädchen bleiben nicht zu lange, aber meine Manieren sind sowieso hoffnungslos (nicht nur, was das Briefe-Schreiben angeht). Der Kellner in seinem weißen Jackett sieht schon dauernd ganz empört zu mir rüber. Langsam schläft mir auch die Hand ein, und ich muss allmählich zum Schluss kommen. Außerdem geht mir das Briefpapier aus.
Miu besucht gerade eine alte Freundin, die in Rom wohnt, und ich wollte in der Nähe des Hotels einen Spaziergang machen. Unterwegs habe ich dieses Café entdeckt und eine Pause eingelegt, um an Dich zu schreiben. Mir ist, als würde ich Dir eine Flaschenpost von einer einsamen Insel schicken. Seltsamerweise habe ich ohne Miu gar keine Lust, etwas zu unternehmen. Da bin ich zum ersten – und vielleicht sogar zum letzten – Mal in Rom und interessiere mich weder für die Ruinen noch für die Brunnen. Nicht mal zum Einkaufen kann ich mich aufraffen. Es genügt mir schon, in diesem Café zu sitzen, wie ein Hund den Geruch der Stadt zu schnuppern, den Stimmen und Geräuschen zu lauschen und die Passanten zu beobachten.
Und langsam spüre ich, wie das Gefühl »auseinander gefallen« zu sein, von dem ich am Anfang schrieb, nachlässt. Es stört mich nicht mehr so sehr. Genauso war es immer, wenn ich nachts nach einem Gespräch aus dem Telefonhäuschen gegangen bin. Könnte es sein, dass du die Fähigkeit besitzt, mich auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen?
Was meinst du? Bete für mein Glück und Wohlergehen. Das brauche ich dringend.
Bis bald.
P. S. Ich komme wahrscheinlich am 15. August zurück und verspreche Dir, dass wir, bevor der Sommer zu Ende geht, zusammen zu Abend essen.
Fünf Tage später erhielt ich einen zweiten Brief aus einem Ort in Frankreich, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Dieser Brief war viel kürzer. Sumire und Miu hatten ihren Mietwagen in Rom abgegeben und waren mit dem Zug nach Venedig gefahren, wo sie sich zwei Tage lang Vivaldi-Konzerte anhörten. Die meisten fanden in der Kirche statt, in der Vivaldi Priester gewesen war. »Wir haben so viel Vivaldi gehört, dass ich für das nächste halbe Jahr bedient bin«, schrieb Sumire. Ihre Beschreibung der in Papier gewickelten, gegrillten Meeresfrüchte, die sie in Venedig gegessen hatte, war so anschaulich, dass ich am liebsten sofort hingereist wäre, um sie selbst zu kosten.
Nach Venedig waren die beiden nach Mailand zurückgekehrt und von dort zu einem kurzen Aufenthalt (und einem Einkaufsbummel) nach Paris geflogen. Anschließend fuhren sie mit dem Zug nach Burgund. Eine gute Freundin von Miu besaß dort eine Villa, eher einen Landsitz, wo sie wohnten. Wie in Italien hatte Miu beruflich auf Weingütern zu tun. An freien Nachmittagen unternahmen sie mit Picknickkorb und Wein Ausflüge in ein nahe gelegenes Wäldchen. »Der Burgunder schmeckt wie ein Traum«, schrieb Sumire.
Übrigens hat sich der Plan, am 15. August zurückzufliegen, geändert. Wenn wir hier in Frankreich alles erledigt haben, wollen wir noch ein bisschen Ferien auf einer griechischen Insel machen. Ein Herr aus England – ein echter Gentleman –, den wir hier kennen gelernt haben, besitzt eine Villa auf einer kleinen Insel und hat uns eingeladen, sie so lange zu benutzen, wie wir wollen. Da hüpft einem doch das Herz! Miu hat auch
Weitere Kostenlose Bücher