Sputnik Sweetheart
fortgelaufen, sondern dort auf dem Baum verhungert, davon war ich überzeugt.«
Sumire hob den Kopf und sah Miu an.
»Ich habe Katzen immer noch sehr gern, obwohl ich seither nie wieder eine hatte. Aber damals beschloss ich, das Kätzchen, das auf den Baum geklettert und nie mehr zurückgekommen ist, solle meine erste und letzte Katze bleiben. Ich konnte sie nicht vergessen und einfach eine andere Katze lieb haben.«
»An jenem Nachmittag im Hafencafé hielt ich unsere Unterhaltung für nichts weiter als einen harmlosen Austausch von Erinnerungen, aber im Rückblick kommt mir jedes Wort bedeutungsvoll vor. Oder ich bilde mir das nur ein.«
Miu wandte mir das Profil zu und schaute aus dem Fenster. Der Wind vom Meer bauschte die Gardinen. Während sie so in die nächtliche Dunkelheit starrte, schien sich die Stille im Zimmer zu vertiefen.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Vielleicht hat sie nicht unmittelbar etwas mit dem Thema zu tun, aber sie beschäftigt mich schon eine ganze Weile«, sagte ich. »Sie haben gesagt, Sumire sei spurlos – wie Rauch – von dieser Insel verschwunden. Vor vier Tagen. Und Sie sind zur Polizei gegangen, nicht wahr?«
Miu nickte.
»Trotzdem haben Sie, statt Sumires Familie zu benachrichtigen, mich angerufen. Warum?«
»Ich habe keinen Anhaltspunkt, was mit Sumire geschehen ist, und wollte ihre Eltern nicht unnötig in Sorge versetzen, bevor ich etwas in der Hand habe. Nach reiflicher Überlegung habe ich beschlossen, damit noch etwas zu warten.«
Ich stellte mir vor, wie Sumires gut aussehender, stets beherrschter Vater die Fähre bestieg und auf die Insel kam. Würde ihre Stiefmutter ihn aus Sorge begleiten? Die Katastrophe wäre perfekt. Andererseits konnte ich nicht leugnen, dass die Katastrophe bereits eingetreten war. Es war nicht gerade eine Lappalie, wenn auf dieser kleinen Insel eine Ausländerin vier Tage lang verschwunden blieb.
»Aber warum haben Sie mich angerufen?«
Miu schlug die bloßen Beine übereinander und zupfte an ihrem Rocksaum.
»Sie waren der Einzige, an den ich mich wenden konnte.«
»Obwohl wir uns noch nie begegnet sind?«
»Sumire vertraut Ihnen wie keinem anderen Menschen. Sie seien ein Mensch, der alles in seiner ganzen Tragweite akzeptieren könne, hat sie gesagt.«
»Diese Ansicht scheint mir nicht sehr verbreitet zu sein«, sagte ich.
Miu kniff die Augen zusammen und lächelte, wobei sie wieder diese Fältchen hervorzauberte.
Ich stand auf, ging zu ihr hinüber und nahm ihr sacht das leere Glas aus der Hand. In der Küche goss ich Courvoisier hinein, kehrte ins Wohnzimmer zurück und reichte es ihr. Miu nahm es und dankte mir. Die Zeit verging, die Gardine flatterte lautlos im Wind. Die Brise hatte den Geruch eines fremden Landes.
»Möchten Sie die reine Wahrheit wissen?«, fragte Miu. Es klang erschöpft, als habe sie sich endlich zu etwas durchgerungen.
Ich hob den Kopf und sah ihr ins Gesicht. »Eins ist sicher«, sagte ich, »wenn mich die Wahrheit nicht interessieren würde, wäre ich bestimmt nicht hier.«
Wie geblendet schaute Miu mit zusammengekniffenen Augen auf die Gardinen. Dann begann sie mit ruhiger Stimme zu erzählen. »Es ist in der Nacht geschehen, nachdem wir im Hafencafé über die Katze gesprochen hatten.«
9
Nach ihrem Gespräch über die Katzen gingen Miu und Sumire einkaufen und kehrten dann ins Haus zurück. Die Zeit bis zum Abendessen verbrachten sie wie immer getrennt. Sumire ging auf ihr Zimmer und schrieb an ihrem Laptop, während Miu im Wohnzimmer auf dem Sofa, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, mit geschlossenen Augen Brahms-Liedern lauschte, von Julius Katchen interpretiert. Es war eine alte Langspielplatte, aber die Darbietung war von einer so gefühlvollen Heiterkeit, so anrührend und doch zurückhaltend, dass es sich wirklich lohnte, sie anzuhören.
»Stört dich die Musik?«, fragte Miu und steckte den Kopf in Sumires Zimmer, dessen Tür weit offen stand.
»Brahms stört mich nie«, antwortete Sumire und wandte sich zu ihr um.
Miu sah Sumire zum ersten Mal so konzentriert schreiben. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich eine bis dahin nicht gekannte Konzentration. Ihre Mundpartie war angespannt wie bei einem Tier auf Jagd, und ihr Blick hatte eine besondere Schärfe.
»Was schreibst du?«, fragte Miu. »Einen neuen Sputnik-Roman?«
Die Anspannung um Sumires Mund ließ etwas nach. »Nichts Besonderes, nur, was mir so durch den Kopf geht. Vielleicht kann ich es später noch
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