Sputnik Sweetheart
ihres toten Frauchens her.
Hin und wieder an ihrem Kaffeetässchen nippend, übersetzte Sumire den Artikel Stück für Stück. Ein paar Bienen umschwirrten den Tisch, gierig nach der Marmelade, die ein Gast vor ihnen verkleckert hatte. Miu schaute durch ihre Sonnenbrille aufs Meer und lauschte aufmerksam dem, was Sumire ihr da vortrug.
»Und was passierte dann?« fragte Miu.
»Das war alles«, sagte Sumire, faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. »Mehr steht hier nicht.«
»Was wohl aus den Katzen geworden ist?«
»Nun ja.« Sumire überlegte mit zusammengepressten Lippen. »Die Zeitungen sind überall gleich – was einen wirklich interessiert, berichten sie nicht.«
Die Bienen flogen plötzlich wie aufgescheucht hoch, drehten mit viel Gesumm eine Runde über dem Tisch, um sich erneut niederzulassen und an der Marmelade zu naschen.
»Über das Schicksal der Katzen steht da nichts«, sagte Sumire und zog ihr übergroßes T-Shirt glatt, zu dem sie knappe Shorts ohne Unterwäsche trug, wie Miu zufällig wusste. »Katzen, die einmal Menschenfleisch gekostet haben, könnten zu Menschenfressern werden. Deswegen hat man sie vielleicht eingeschläfert. Oder sie wurden aus Rücksicht auf das, was sie durchgemacht haben, begnadigt.«
»Wie würdest denn du als Polizeichef des Ortes entscheiden?«
Sumire überlegte einen Moment. »Vielleicht könnte man sie in eine Anstalt einweisen und umerziehen? Zu Vegetariern?«
»Das wäre nicht schlecht«, sagte Miu und lachte. Dann nahm sie die Sonnenbrille ab und sah Sumire an. »Diese Geschichte erinnert mich an die erste katholische Predigt, die ich auf der Mittelschule zu hören bekam. Ich weiß nicht, ob ich dir schon erzählt habe, dass ich sechs Jahre auf einer streng katholischen Mädchenschule war? Ich habe eine normale Grundschule besucht, bin aber ab der Mittelstufe auf diese Schule gegangen. Nach der Aufnahmezeremonie versammelten sich die neuen Schülerinnen in der Aula, und eine würdige, ältere Nonne hielt uns einen Vortrag über katholische Ethik. Es war eine französische Schwester, die jedoch fließend Japanisch sprach. Was sie uns alles erzählte, weiß ich nicht mehr, nur an eine Geschichte mit einer Katze kann ich mich noch gut erinnern.«
»Hört sich interessant an«, sagte Sumire.
»Du erleidest Schiffbruch und landest auf einer einsamen Insel. Außer dir ist nur noch eine Katze im Rettungsboot. Ihr treibt eine Weile auf dem Meer herum, bis ihr eine Insel erreicht. Eigentlich besteht sie nur aus einem Felsen, auf dem nichts Essbares gedeiht. Süßwasser gibt es auch nicht. Im Rettungsboot befinden sich nur Zwieback und Wasser für zehn Tage und für einen Menschen. So ungefähr ging die Geschichte.
An dieser Stelle blickte die Schwester in die Runde und sagte streng: ›Schließt die Augen und stellt euch die Szene vor. Ihr seid es, die mit der Katze auf die einsame Insel verschlagen werdet, irgendwo mitten im Meer. Es scheint unmöglich, dass ihr innerhalb von zehn Tagen gerettet werdet. Wenn euch Essen und Wasser ausgehen, müsst ihr sterben. Was würdet ihr tun? Die Katze ist immerhin eure Leidensgenossin. Würdet ihr Wasser und Nahrung mit ihr teilen?‹ Die Schwester hielt inne und schaute wieder reihum in unsere Gesichter. Dann fuhr sie fort: ›Nein, das wäre verkehrt. Ihr müsst wissen, dass ihr auf keinen Fall mit der Katze teilen dürft. Denn ihr seid Gottes auserwählte Geschöpfe, und die Katze nicht. Deshalb müsst ihr den Zwieback allein essen‹, verkündete die Schwester mit ernster Miene.
Zuerst hielt ich das Ganze für einen Scherz. Und wartete auf eine Pointe. Es kam aber keine. Die Nonne kam nun auf die Würde und den Wert des Menschen zu sprechen, und ich verstand überhaupt nichts mehr. Bis heute frage ich mich, ob es wirklich nötig ist, kleinen Mädchen solche Geschichten zu erzählen.«
Sumire dachte nach. »Und darf man am Ende auch die Katze essen?«
»Tja, wer weiß? Davon hat sie nichts gesagt.«
»Bist du katholisch?«
Miu schüttelte den Kopf. »Nein, die Schule lag nur zufällig in unserer Nähe. Und die Uniform war toll. Ich war die Einzige an der Schule, die nicht die japanische Staatsbürgerschaft hatte.«
»Hast du schlechte Erfahrungen gemacht?«
»Weil ich Koreanerin bin?«
»Ja.«
Miu schüttelte wieder den Kopf. »Die Schule war sehr liberal. Die Vorschriften waren streng, und von den Schwestern waren einige ziemlich verschroben, aber insgesamt war die Atmosphäre fortschrittlich,
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