Sputnik Sweetheart
mehr. Eben alles Mögliche. Während ich im Riesenrad eingesperrt war, tat er mit meinem andern Ich, was ihm gefiel. Nicht dass ich Angst vor Sex gehabt hätte. Zu Zeiten habe ich Sex ganz frei genossen. Aber was ich dort sah, war etwas ganz anderes – ein sinnloser, obszöner Akt mit dem alleinigen Ziel, mich zu beschmutzen. Seine ganze Raffinesse setzte dieser Ferdinando ein, um das Geschöpf, das ich war, mit seinen dicken Fingern und seinem riesigen Penis zu beschmutzen (obwohl mein Ich dort drüben auf der anderen Seite sich offensichtlich nicht beschmutzt fühlte). Und am Ende war es nicht einmal mehr Ferdinando.
Nicht mehr Ferdinando? Ich starrte Miu an. Wenn nicht Ferdinando, wer dann?
Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Jedenfalls war es zum Schluss nicht mehr Ferdinando. Oder er war es von Anfang an nicht.
Als Miu wieder zu sich kam, lag sie im Krankenhaus. Man hatte ihr ein weißes Krankenhausnachthemd über den nackten Körper gestreift. Alle Glieder taten ihr weh. Der Schilderung des Arztes zufolge hatte jemand vom Personal des Vergnügungsparks am Morgen ihre Brieftasche gefunden und die Situation erkannt. Sie hatten das Riesenrad gedreht und die Ambulanz gerufen. Miu hatte bewusstlos auf dem Boden der Gondel gelegen, anscheinend in einem starken Schockzustand. Ihre Pupillen reagierten nicht. An den Armen und im Gesicht hatte sie zahllose Schürfwunden, und ihre Bluse war blutbeschmiert, sodass man sie zur Behandlung ins Krankenhaus gebracht hatte. Wie sie sich die Verletzungen zugezogen hatte, blieb unklar. Zumindest würden keine Narben davon zurückbleiben. Die Polizei verhörte den Alten, der das Riesenrad bediente. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass Miu kurz vor Betriebsschluss mit dem Riesenrad gefahren war.
Am folgenden Tag kam die Polizei ins Krankenhaus, um Miu zu befragen, aber sie konnte ihnen kaum etwas sagen. Als sie Miu mit ihrem Passfoto verglichen, wurden ihre Gesichter ernst. Ein seltsamer Ausdruck breitete sich darauf aus, als hätten sie etwas Falsches, Bitteres geschluckt. Zögernd fragten sie: »Entschuldigen Sie, aber sind Sie wirklich erst fünfundzwanzig?« Miu bejahte. So stand es doch auch in ihrem Pass. Wozu also die Frage?
Doch als sie sich kurz darauf am Waschbecken das Gesicht waschen wollte und in den Spiegel sah, verstand sie: Ihr Haar war über Nacht vollständig weiß geworden. Wie frisch gefallener Schnee. Im ersten Augenblick glaubte sie, eine fremde Person stünde hinter ihr, und sie wandte sich um. Aber da war niemand. Sie war ganz allein im Bad. Noch einmal schaute sie in den Spiegel. Da erst begriff sie, dass die Frau mit dem weißen Haar ihr eigenes Spiegelbild war. Miu sank bewusstlos zu Boden.
Ein Teil von Miu war verloren gegangen.
»Ich befand mich zwar noch auf dieser Seite, aber mein anderes Ich – oder die andere Hälfte meines Ichs – war auf jene Seite übergewechselt und hatte mein schwarzes Haar, meine Sexualität, meine Periode, meinen Eisprung und vielleicht sogar meinen Lebenswillen mit hinübergenommen. Ich lebe ständig in dem Gefühl, dass dieses Ich, das du hier vor dir siehst, nur die übrig gebliebene Hälfte ist. Aus einem mir unbekannten Grund ist mein Ich auf dem Riesenrad in der kleinen Stadt in der Schweiz unwiderruflich in zwei Teile zerfallen. Vielleicht ging es ja um ein Geschäft. Gestohlen wurde jedenfalls nichts. Alles ist noch ordnungsgemäß vorhanden, wenn auch auf der anderen Seite. Dessen bin ich mir sicher. Wir sind nur durch einen Spiegel getrennt, durch eine gläserne Scheibe, die ich nicht zu durchdringen vermag. In alle Ewigkeit nicht.«
Miu knabberte an ihren Nägeln.
»Andererseits kann niemand die Zukunft bis in alle Ewigkeit voraussehen. Vielleicht werden wir uns eines Tages doch wieder begegnen und zu einem Ganzen zusammenfinden. Ein großes Problem bleibt jedoch für mich bestehen: Ich bin außerstande zu beurteilen, welches Bild auf welcher Seite des Spiegels mein wahres Ich darstellt. Ist es dasjenige, das Ferdinando als Liebhaber akzeptierte? Oder das Ich, das ihn verabscheute? Diesen Zwiespalt werde ich wohl niemals überwinden.«
Statt nach den Sommerferien ans Konservatorium zurückzukehren, brach Miu ihren Auslandsaufenthalt ab, ging nach Japan und rührte nie wieder eine Klaviertaste an. Sie hatte die Fähigkeit zu musizieren für immer verloren. Als im Jahr darauf ihr Vater starb, übernahm sie seine Firma.
»Dass ich nicht mehr Klavier spielen
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