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Sputnik Sweetheart

Sputnik Sweetheart

Titel: Sputnik Sweetheart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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dorthin gebracht hatte, war verschwunden, und ich saß fest. Es blieb mir nichts übrig, als zu versuchen, aus eigener Kraft zu überleben.
     
    Wieder wurde mir klar, wie wichtig, wie unersetzlich Sumire für mich war. Auf ihre unnachahmliche Weise hatte sie mich an die Welt gebunden. Wenn ich sie sah, mir ihr sprach oder las, was sie geschrieben hatte, weitete sich mein Bewusstsein ganz natürlich, und ich sah Dinge, die ich nie zuvor gesehen hatte. Vorbehaltlos hatten wir einander unsere Herzen geöffnet, wie junge Liebende die Kleider voreinander ablegen. Wir vertrauten einander auf eine Weise, wie ich es nie mit einer anderen Person erlebt hatte. Wir schätzten dieses Gefühl sehr, rührten jedoch nie daran, wie um es nicht zu verletzen. Wie unsagbar schwer es mir gefallen war, auf körperliche Freuden mit ihr verzichten zu müssen! Zweifellos wären wir glücklicher gewesen, wenn das möglich gewesen wäre. Aber es gibt Dinge, die wie Ebbe und Flut oder der Kreislauf der Jahreszeiten beim besten Willen nicht zu ändern sind. Es war einfach unser unabänderliches Schicksal. Die zarte Pflanze unserer Freundschaft würde, sosehr wir sie auch hegten und pflegten, nicht ewig wachsen. Unaufhaltsam steuerten wir auf das Ende einer Sackgasse zu. Das hatte ich immer gewusst.
    Dennoch liebte und begehrte ich Sumire mehr als jeden anderen Menschen. Ich konnte diese Gefühle nicht einfach ablegen, denn es gab nichts, das ihren Platz einnehmen konnte.
    Häufig träumte ich davon, dass eines Tages eine unerwartete große Wandlung eintreten würde. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering war, hatte ich doch wenigstens das Recht, davon zu träumen. Natürlich würde dieser Traum nie in Erfüllung gehen.
     
    Nachdem ich Sumire verloren hatte, verspürte ich in meinem Inneren nichts als Leere. Wie die Flut den Strand überspült und alles mit sich ins Meer reißt, hatte Sumire in mir nur eine fremde, ausgestorbene Welt hinterlassen, in der Düsterkeit und Kälte herrschten. Was zwischen Sumire und mir gewesen war, würde es in dieser neuen Welt nie mehr geben. Auch das wusste ich genau.
    Für jeden von uns gibt es etwas ganz Besonderes, das sich ihm nur in einem bestimmten Augenblick als schwache kleine Flamme darbietet. Einige achtsame, vom Glück begünstigte Menschen hegen diese Flamme, bis sie groß genug ist, um ihnen wie eine Fackel den Lebensweg zu erhellen. Erlischt diese Flamme jedoch, können wir sie nie wieder entzünden. Ich hatte nicht nur Sumire verloren. Als sie verschwand, war auch die kostbare Flamme erloschen.
     
    Ich dachte über die Welt auf der anderen Seite nach. Vielleicht war Sumire dort, ebenso wie die andere Miu mit dem schwarzen Haar und der lustvollen Sexualität. Vielleicht begegneten sie sich ja sogar, liebten und befriedigten einander. »Wir tun Dinge, die man nicht in Worte fassen kann«, würde Sumire mir wahrscheinlich erzählen (und mir dann doch alles beschreiben).
     
    Ob es dort drüben auch einen Platz für mich gab? An dem ich mit den beiden zusammen sein könnte? Während die beiden sich leidenschaftlich liebten, könnte ich in einer Zimmerecke sitzen und Balzacs gesammelte Werke lesen. Wenn Sumire dann geduscht hätte, könnten wir beide einen langen Spaziergang unternehmen (wobei wie üblich Sumire den größten Teil des Gesprächs bestreiten würde). Konnte eine solche Beziehung überhaupt Bestand haben? War so etwas überhaupt natürlich? »Selbstverständlich«, würde Sumire sagen. »Keine Frage. Du bist doch mein einziger wahrer Freund.«
     
    Doch wie sollte ich jemals auf die andere Seite gelangen? Ich strich mit der Hand über die glatte, steinerne Oberfläche der Akropolis und dachte an die lange Geschichte, die darin eingeschlossen war. Ob es mir gefiel oder nicht, als Mensch war ich dem Fluss der Zeit unterworfen und konnte ihm nicht entkommen. Andererseits will ich ihm wahrscheinlich auch gar nicht entkommen.
     
    Am nächsten Tag würde ich nach Tokyo zurückfliegen. Die Sommerferien waren zu Ende, und ich musste mich wieder in den endlosen Alltag einfügen. Dort ist mein Platz. Dort sind meine Wohnung, mein Schreibtisch, mein Klassenzimmer, meine Schüler. Ein ruhiges Leben, Romane, die ich lesen möchte, hin und wieder eine Affäre.
    Dennoch werde ich nie wieder so sein wie vorher. Von morgen an werde ich ein anderer Mensch sein. Natürlich wird niemand in Japan die Veränderung bemerken. Auch wenn nach außen hin alles sein wird wie immer, ist in mir etwas

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