Sputnik Sweetheart
bis dahin zu Boden gestarrt hatte, hob langsam den Kopf und schaute mich an. Erst jetzt fiel mir auf, dass er ganz anders aussah als sonst. Sein Gesicht war seltsam ausdruckslos, sein Blick leer und desorientiert.
»Hat dich jemand dazu gezwungen?« fragte ich.
Rübe gab keine Antwort. Ich wusste nicht einmal, ob er meine Frage überhaupt verstanden hatte. Ich gab es auf. Es führte zu nichts, den Jungen hier und jetzt zu befragen. Ich würde doch nichts aus ihm herausbekommen. Seine Türen und Fenster waren fest verriegelt.
»Also, Herr Lehrer, was machen wir?« fragte mich der Wachmann. »Ich werde dafür bezahlt, dass ich meine Runden drehe, die Bildschirme überwache, Ladendiebe erwische und sie hierher bringe. Was danach passiert, ist eine andere Frage. Besonders heikel ist es, wenn es sich um ein Kind handelt. Was schlagen Sie vor? Als Lehrer kennen Sie sich da besser aus. Sollen wir einfach die Polizei holen? Für mich wäre das das Bequemste. Dann müsste ich nicht den halben Tag sinnlos gegen eine Wand reden.«
In diesem Moment war ich mit meinen Gedanken ganz woanders. Das schäbige Supermarktsbüro hatte mich an die Polizeiwache auf der Insel in Griechenland erinnert und mir zu Bewusstsein gebracht, dass Sumire nicht mehr da war.
Daher brauchte ich eine Weile, bis ich verstand, wovon der Mann redete.
»Ich sage es seinem Vater. Der wird sich ihn vorknöpfen und ihm klarmachen, dass Ladendiebstahl ein Verbrechen ist. Mein Junge wird das nie wieder tun«, sagte meine Freundin mit tonloser Stimme.
»Mit anderen Worten, Sie wollen keine Anzeige. Das haben Sie mir bereits gesagt«, sagte der Wachmann gelangweilt. Er klopfte seine Zigarette am Aschenbecher ab, die Asche fiel hinein. Nun sah er wieder in meine Richtung. »Meiner Ansicht nach sind drei Mal zu viel. Irgendwo muss man eine Grenze ziehen. Was meinen Sie?«
Ich atmete tief ein und zwang mich in die Gegenwart zurück. Acht Hefter und ein Sonntagnachmittag im September.
»Ich kann nichts dazu sagen, ohne mit ihm gesprochen zu haben«, sagte ich. »Bisher hat der Junge nie Probleme gemacht. Er ist nicht dumm. Ich habe keine Ahnung, warum er einen so absurden Diebstahl begangen hat. Aber ich werde mir die Zeit nehmen, es herauszufinden. Vorerst möchte ich mich für die Ungelegenheiten entschuldigen, die er Ihnen bereitet.«
»Eins verstehe ich nicht«, sagte der Wachmann und kniff hinter seiner Brille die Augen zusammen. »Dieser Junge – Shin’ichi Nimura – ist doch in Ihrer Klasse. Das heißt, Sie sehen ihn jeden Tag. Stimmt’s?«
»Genau.«
»Er ist in der vierten Klasse, und Sie sind seit einem Jahr und vier Monaten sein Klassenlehrer. Richtig?«
»Ja, ich habe ihn seit der dritten Klasse.«
»Wie viele Schüler sind in Ihrer Klasse?«
»Fünfunddreißig.«
»Eigentlich überschaubar. Sie hatten also keine Ahnung, dass der Junge in Schwierigkeiten ist. Nichts gemerkt, oder?«
»Nichts.«
»Trotzdem hat der Junge innerhalb eines halben Jahres drei Ladendiebstähle begangen. Immer allein. Er hat die Sachen weder gebraucht, noch hat ihn jemand dazu gezwungen. Wegen des Geldes war es auch nicht. Von seiner Mutter weiß ich, dass er ausreichend Taschengeld bekommt. Also stiehlt er nur, um zu stehlen. Mit anderen Worten, der Junge hat ernste Probleme. Und Sie sagen, Sie hätten davon nichts bemerkt?«
»Ich spreche jetzt natürlich nur als Lehrer, aber Ladendiebstahl ist bei Kindern in der Regel weniger als krimineller Akt zu sehen als ein Anzeichen für eine leichte emotionale Störung. Wahrscheinlich wäre mir etwas aufgefallen, wenn ich besser aufgepasst hätte. Diesen Vorwurf muss ich mir machen. Andererseits sind solche Störungen häufig nicht offensichtlich. Mit Strafen und Schimpfen ist das Problem nicht zu lösen. Es wird in veränderter Form immer wieder auftauchen, wenn man die zugrunde liegende Ursache nicht herausfindet und beseitigt. Wenn Kinder klauen, ist das häufig ein Hilfeschrei. Es erfordert vielleicht ein bisschen Zeit, aber man muss sich mit ihnen auseinander setzen.«
Der Wachmann drückte seine Zigarette aus und starrte mich mit halb offenem Mund lange an, als wäre ich ein seltenes Tier. Seine dicken Wurstfinger auf der Schreibtischplatte kamen mir vor wie zehn schwarz behaarte, fette Tierchen. Bei ihrem Anblick stockte mir fast der Atem.
»Bringen sie euch so was heutzutage an der Uni bei – in Pädagogik oder wie das heißt?«
»Nicht unbedingt. Das ist allgemeine Psychologie. Steht in jedem
Weitere Kostenlose Bücher