ST - TOS 101: Feuertaufe: McCoy - Die Herkunft der Schatten
als sonst, nach dieser hektischen Nacht vielleicht sogar ein bisschen mehr. Sie hatte aus dem Fenster der Bahn gesehen, als diese am Naker Square hielt – zwei Haltestellen bevor sie aussteigen musste –, und beschlossen, dass sie den Rest des Weges laufen wollte. Als sie in die Bahn gestiegen war, war es noch dunkel gewesen, doch außerhalb der U-Bahn-Station hatte sie das strahlende Sonnenlicht des neuen Tages begrüßt.
Nun spazierte sie über eine breite Promenade, die im Herzen der Stadt lag. Zu dieser Tageszeit erwachte der Großteil der Bevölkerung gerade erst, und Joanna genoss die Stille an diesem öffentlichen Ort, der normalerweise vor Personen wimmelte. Ein paar Leute waren bereits unterwegs, allein oder in Zweier- und Dreiergruppen. Ihr eiliger Schritt deutete darauf hin, dass die meisten von ihnen auf dem Weg zur Arbeit waren.
Eine ganze Weile hielt sich Joanna von den anderen Fußgängern fern. Sie wanderte über den schmalen Mittelstreifen des Boulevards. Links und rechts von ihr standen Reihen belaubter Bäume, mache violett, andere weiß. Die Luft dort roch sauber und leicht süßlich und belebte ihre erschöpften Sinne. Sie behielt eine gemütliche Geschwindigkeit bei, dachte nicht darüber nach, wann oder wie sie nach Hause kommen würde, obwohl sie sich grob in die Richtung ihrer Wohnung bewegte.
Als die Sonne höher über die zwei- und dreistöckigen Gebäude stieg, die diesen Teil der Stadt ausmachten, verließ Joanna den Mittelstreifen und ging in Richtung der Geschäfte. Die meisten hatten noch nicht geöffnet, aber sie wollte momentan ohnehin nicht einkaufen. Sie war nur aus der Bahn gestiegen, weil sie an die frische Luft wollte.
Weil ich an die frische Luft
wollte
?
, fragte sie sich.
Oder weil ich es
musste
?
Spielte das, was sie an diesem Morgen beschäftige, wirklich eine Rolle? Sie vermutete, dass es so war. Falls sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester weiterverfolgte, würde sie mit viel schlimmeren Fällen als dem von letzter Nacht konfrontiert werden.
Falls
ich Krankenschwester werde?
Hatte sie das gerade tatsächlich gedacht? Und was noch wichtiger war, hatte sie es auch so gemeint? Seit sechs Jahren, eigentlich sogar schon seit ihrer frühen Teenagerzeit – und vermutlich auch schon lange davor –, strebte Joanna eine Karriere als Krankenschwester an. Warum also wurde sie nun, in ihrem zweiten Ausbildungsjahr, bezüglich dieses Ziels plötzlich unsicher? Sie wusste es nicht, und sie war auch nicht hergekommen, um Antworten zu finden. Eigentlich war sie nur hier, weil sie versuchen wollte, Fragen aus dem Weg zu gehen. Das war vielleicht nicht besonders erwachsen, aber sie hatte eine sehr lange Nacht hinter sich und daher momentan kein großes Interesse an Selbsterkenntnis.
Joanna versuchte, ihren Geist zu leeren und zu entspannen. Sie starrte in die Schaufenster der Geschäfte, die sie passierte. In vielen sah sie das, was auf Verillia derzeit als die neueste Mode galt: farbenfrohe Saris, die über schwarzen Unterröcken und Cholis getragen wurden. Joanna gefielen die bunten Töne und elegant drapierten Stoffe, doch sie hielt sich mit ihren ein Meter sechzig für zu klein, um darin gut auszusehen. Allerdings spielte Mode in ihrem Leben ohnehin keine große Rolle. Für die vielen Stunden, die sie im Unterricht oder der Bibliothek verbrachte, kleidete sie sich so bequem wie möglich. Und während der Schichten in der Klinik trug sie den vorgeschriebenen orangefarbenen Kittel. Daher boten sich ihr nur wenige Gelegenheiten, um sich herauszuputzen.
Joanna starrte ihr Spiegelbild im Schaufenster an und kicherte in sich hinein. Sie trug lediglich ein Accessoire bei sich, eine kleine schwarze Tasche, die über ihrer Schulter hing und ein Notizgerät sowie ihre ID enthielt. Ihre einfache, einfarbige Uniform verschönerte ihre Erscheinung nicht gerade. Tatsächlich bewirkte sie sogar das Gegenteil. Das formlose Hemd und die dazu passende Hose hingen an ihrem Körper wie ein Sack und waren weit genug, um ihre wohlgeformte durchtrainierte Figur zu verbergen. Außerdem passte der karottenähnliche Farbton der Kleidung absolut nicht zu ihrer blassen Haut und ihrem langen roten Haar.
Joanna schlenderte weiter und betrachtete das Schaufenster einer Buchhandlung, die auf die aktuellsten Romane von Verillia und anderen Welten spezialisiert war. Sie war stets eine begeisterte Leserin zeitgenössischer Literatur gewesen, was sie zweifellos ihrer lesehungrigen Mutter zu verdanken hatte.
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