Stachel der Erinnerung
zu glauben. Oder zu vertrauen.“
Tessa spürte den Hauch von Resignation in seinen Worten. Er gab nicht schnell auf, aber seine Geduld war auch nicht unendlich. Sie wünschte, sie würde klar sehen. Sie mochte ihn, keine Frage, aber sie verspürte nicht die Besessenheit, die sie sonst immer ergriff, wenn sie von einer Langzeitbeziehung mit einem Mann träumte. Und das war so außergewöhnlich, dass sie damit nicht zurechtkam.
„Ich habe Angst, dich zu verletzen, dazu mag ich dich zu sehr“, sagte sie schließlich. „Ich habe Angst erkennen zu müssen, dich doch nicht zu lieben, obwohl du mir alle Wünsche erfüllst, die ich habe. Das hast du nicht verdient. Niemand hat das verdient.“
Den letzten Satz hatte sie schon einmal gehört – aber wann und wo?
„Was schlägst du also vor?“, fragte er mit einer Sachlichkeit, die in krassem Gegensatz zu der Leidenschaft seiner vorigen Worte stand. „Willst du gehen? Ein Jahr lang abwarten, ob du mich vermisst oder nicht?“
Der Vorschlag bewies aufs Neue, wie groß seine Liebe war. Er wollte sie nicht einengen oder überrumpeln, sondern ihr die Zeit geben, die sie für eine Entscheidung brauchte. Ein Jahr weit weg von ihm. Das wäre vermutlich das Beste. Ohne seine Anwesenheit würde sie die Dinge objektiver betrachten können. Allerdings erfasste sie bei der bloßen Vorstellung, ihn ein paar Wochen nicht zu sehen oder zu sprechen, die nackte Panik. Er war ein Teil ihres Lebens geworden, ohne dass sie es gemerkt hatte. Sie war gar nicht in die Situation gekommen, sich in gewohnter Weise an ihn zu klammern, weil er ihr längst unter die Haut gegangen war. Bilder von ihren ersten Begegnungen zogen vor ihrem inneren Auge vorbei. Das karierte Hemd, die durchdringenden Augen, die eisige Aura, die ihn umgeben und die sie mit Aggression verwechselt hatte. Sie sah ihn, wie er die Marder fütterte, die einzige Verbindung zu einem Lebewesen, die er bereit gewesen war, einzugehen. Sein Charakter hatte sich nicht verändert. Nur der auf seiner Seele liegende Schutt war verschwunden und jetzt leuchtete sie in einem warmen Licht, das eine verheißungsvolle Zukunft versprach. Diese Erkenntnis verstärkte augenblicklich Tessas Panik, weil sie von ihr eine Entscheidung verlangte. Sie schloss die Augen und versuchte regelmäßig zu atmen. Dabei zählte sie unhörbar von zehn rückwärts. Dann stand ihr Entschluss fest. Sie musste handeln. Und aufhören, Angst zu haben.
„Nein“, sagte sie ruhig. „Ich will nicht gehen. Wenn du es trotz allem, was du von mir weißt, mit mir versuchen willst, dann versuchen wir es. Vielleicht ist dein Vertrauen in mich wirklich berechtigt.“
Der letzte Satz klang alles andere als entschlossen, sondern im Gegenteil völlig jämmerlich, aber zu ihrer Erleichterung zog er sie einfach wieder an sich. Doch ehe er sie küssen konnte, fügte sie hinzu. „Aber versprich mir eines.“
„Was immer du willst, Tessa.“
„Hass mich nicht, wenn es nicht funktioniert.“
„Es wird funktionieren, wart nur ab.“
neunundzwanzig
Die Leidenschaft, mit der er sie küsste, schwemmte jeden rationalen Gedanken aus ihrem Kopf. Und sie kam nicht dazu, es zu bedauern, denn zu ersten Mal spürte sie, dass er recht hatte. Es würde funktionieren. Nicht ein paar Wochen, nicht ein paar Monate.
Es würde funktionieren für den Rest ihres Lebens. Weil sie ihn ebenso liebte wie er sie. Die Zweifel glitten von ihr ab wie ein zu weit gewordenes Kleid und sie ließ sie ohne Bedauern zurück.
Endlich hob er den Kopf. „Hab ich dich also doch überzeugt?“
Sie legte ihre Arme um seinen Hals. „Noch nicht hundertprozentig. Etwas Grundsatzarbeit ist noch nötig.“
Gott, sie fühlte sich so leicht und unbeschwert, alle Bitterkeit und Angst und Anspannung waren verschwunden. Sie würde ein Leben haben voller Lachen und Sonnenschein. Und Liebe.
Liebe.
Ihr Herz drohte vor lauter Glück zu zerspringen. Sie presste sich an ihn, wäre am liebsten in ihn hineingekrochen. Ihre Hände wanderten unter sein Hemd. Sie spürte die Narbe auf seinem Rücken und folgte der Kontur. Er sollte nicht mehr leiden. Nie mehr. Nicht, wenn es an ihr lag.
Ein greller Blitz zuckte mitten im Raum auf. Tessa und Nick fuhren auseinander. Inmitten einer Gloriole von Licht stand … Kaldak.
Sie starrten ihn an. Er trug die offene Lederweste, die dunkle Hose und die obligaten Stiefel. Aber kein Schwert. Dennoch wirkte er bedrohlicher als jemals zuvor.
„So sieht man sich also
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