Stachel der Erinnerung
um ihm ins Gesicht zu sehen. In ein makelloses Gesicht, wie es dem Gott der Schönheit und des Lichts zustand.
„Ich ziehe einen Platz in deinem Bett jedem anderen Ort vor.“
„Dein Vater wäre nicht erfreut, wenn er wüsste …“
Seine vollen Lippen verzogen sich verächtlich. „Mein Vater verstreut seinen Samen, wie es ihm gefällt. Er hat mich längst vergessen. Du dagegen weißt meine Gegenwart zu schätzen.“
„Das kann ich wohl schlecht leugnen. Die Ewigkeit verliert in deiner Gesellschaft viel von ihrer Tristesse.“
„Warum hast du dann mit Kaldak einen Pakt geschlossen?“
„Langeweile. Pure Langeweile. Außerdem konnte ich nicht glauben, dass er wirklich so dumm ist, zu glauben, ich würde mich ernsthaft um ihn kümmern oder mit ihm gemeinsame Sache machen – nur weil mein Vater seinen Samen ebenfalls großzügig unter allen verteilt, die seinen Weg kreuzen. Oder ich könnte mir nicht jeden Körper beschaffen, den ich mir beschaffen will.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er ist hübsch, aber dumm wie Stroh.“
„Also wirst du mich nicht wegschicken, wenn er dir die vierte Tochter einer vierten Tochter bringt?“, vergewisserte sich Balder und wickelte eine von Hels Haarsträhnen um seine Finger. „Was, wenn man von deinem gebrochenen Wort erfährt?“
„So weit wird es nicht kommen.“ Sie erhob sich geschmeidig, ging zum Fenster und öffnete es. Einen Augenblick später flog eine große Krähe ins Zimmer und landete majestätisch auf einem Kerzenleuchter.
„Arasta, suche nach Kers, und sag ihm, er soll sich bereit machen. Kaldak kehrt an die Stätte seiner Schmach zurück. Wenn Kers es richtig anstellt, kann er ihn dort ein für alle Mal besiegen. Aber er muss sich beeilen, die Zeit ist knapp.“
Nick stand in Tessas Zimmer und blickte durch die Fensterscheiben in das tobende Inferno. Blitze zerrissen die Dunkelheit, der Sturm peitschte die Regentropfen in immer neuen Salven vorwärts. Der Gedanke, dass das Unwetter ein Teil des Albtraums war, in dem er sich bewegte, tauchte ebenso unvermutet wie unerwünscht in ihm auf.
Er musste mit Tessa reden. Daran führte kein Weg vorbei. Zweifellos war sie derselben Ansicht. Aber was sollte er ihr sagen? Dass sie es nicht nur nicht geschafft hatte, den Mord an Meldis zu verhindern, sondern dass sie in der Gestalt von Alva indirekt für den Tod des Mädchens verantwortlich war? Dass Kaldak gar nicht der Mörder war, sondern Meldis nur – aus welchem Grund auch immer – das Gesicht abgetrennt hatte?
Wie würde Tessa das verkraften? Und wie würde sie zu ihm stehen – nach allem, was passiert war?
Die Tür wurde geöffnet und er drehte sich um. Tessa blieb einen Moment stehen, sah ihn überrascht an und schloss dann die Tür. Ihre Haltung verriet Unsicherheit. Sie legte den Schlüssel auf die Kommode und kam mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihn zu. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und Alva war unübersehbar. Sie gehörten zum gleichen Typ Frau. Hochgewachsen mit geraden Schultern, einem langen, schlanken Hals und klaren, scharf geschnittenen Gesichtszügen. Als wären sie Frauen einer Familie, aus verschiedenen Generationen.
„Schön, dass du da bist“, unterbrach sie seine Gedanken. „Was ist passiert? Was ist schief gegangen? Warum hat Kaldak Meldis ein zweites Mal töten können?“
„Was hast du das erste Mal gesehen? Hast du auch ein Blackout gehabt? Oder hast du die Szene von Anfang an miterlebt?“, fragte er zurück, obwohl es darauf im Grund nur eine Antwort gab.
Sie nickte langsam. „Du hast recht. Ich habe auch beim ersten Mal ein Blackout gehabt. Was bedeutet das?“ Argwohn breitete sich in ihrer Stimme aus.
Er zögerte. Gleichgültig, wie er die Worte verpackte, sie würde die richtigen Schlüsse ziehen. Sie steckte zu tief im Geschehen. Er streckte die Arme nach ihr aus, aber sie schüttelte den Kopf. Das machte es nicht einfacher. Er ließ die Arme wieder sinken und hakte die Daumen in den Bund seiner Jeans.
„Ich hatte mit Meldis das geplante Gespräch. Alles verlief wie erwartet. Dann tauchte plötzlich Alva auf. Sie ging wie eine Wahnsinnige auf Meldis los und verlangte, dass sie Serre heiraten solle.“
„Was?“, unterbrach ihn Tessa ungläubig. „Warum sollte sie das denn tun?“
„Ich nehme an, dass Serre und Alva einen Plan geschmiedet haben, wie sie zusammen sein können. Freie und Sklaven durften nicht heiraten, und Serre als möglicher Nachfolger des Jarl musste eine Frau aus der
Weitere Kostenlose Bücher