Stachel der Erinnerung
Er wandte sich wieder dem Computer zu und Tessa ging mit Berit zurück zur Treppe. In der Stille hören sie seine halblauten Worte. „Sie sind ja immerhin noch da.“
sechs
„Das Gutachten fiel besser aus, als ich erwartet habe.“ Hendriks Stimme verriet seine Erleichterung. „Der Untergrund ist stabil genug, ein Gerüst in den Gletscher zu schlagen. Wenn alles gut geht, können wir das Schiff innerhalb eines Monats zur Gänze bergen.“
Sie befanden sich im Aufenthaltsraum der Pension. Neben wuchtigen Polstermöbeln mit verblichenen Zierkissen gab es Bücherregale und Glasvitrinen, die ebenfalls mit Büchern gefüllt waren. Zwei riesige ovale Tische aus poliertem Nussbaumholz mit verschnörkelten Beinen und ein mit grünem Filz bezogener Billardtisch verströmten verstaubte Behaglichkeit. Vor den Fenstern hingen altmodische Spitzenstores, auf einer Kommode stand ein ebenfalls antikes TV-Gerät.
„Sehr schön, endlich eine gute Nachricht.“ Berit nickte anerkennend.
„Ich nehme an, ihr beide bleibt heute hier?“ Hendrik blickte demonstrativ zum Fenster, an das die Regentropfen prasselten.
Berit sah ihn ohne mit der Wimper zu zucken an. „Ja, wir wollen die Handschellen genauer untersuchen und eine Abschrift von den Runen machen. Tessa bringt sie nächste Woche nach Oslo zur Untersuchung.“
„Dann sehen wir uns abends.“ Hendrik zog mit dem Team ab und Berit ließ sich auf eines der Plüschsofas fallen. Gähnend streckte sie sich.
„Wie lange habt ihr gestern noch gemacht?“, fragte Tessa, während sie an der Bücherwand entlang ging.
„Zwei wird’s schon gewesen sein. Vielleicht auch drei.“
„Klingt so, als hätte ich was verpasst.“
„Ach, nicht wirklich. Mit dem schwachbrüstigen Bier in Fahrt zu kommen, ist fast unmöglich. Und unser Mister Dayton weigerte sich, die harten Sachen rauszurücken. Vermutlich hatte er Angst, dass wir seinen Perser vollkotzen.“
Tessa blieb stehen, weil sie die Bücher sah, von denen ihr Quartiergeber gesprochen hatte. Bevor sie darüber nachdachte, zog sie eines davon aus dem Regal. „Neuinterpretation von Snorri Sturlusons Skaldengesängen.“ Eines der frühen Sachbücher, das den Ruhm ihres Vaters begründet hatte. Als Tessa es aufschlug, löste sich eine Staubwolke und brachte sie zum Niesen. Das kann nur ein Omen sein, dachte sie ironisch. Sogar als Toter trieb er ihr Tränen in die Augen. Sie stellte das Buch zurück, wischte mit dem Handrücken über ihre Wange und wandte sich an Berit. „Willst du dich hinlegen, oder machen wir uns an die Handschellen?“
„Hat das nicht noch Zeit?“ Berit gähnte wieder.
„Gib mir die Dinger einfach, ich fange schon mal an. Du legst dich noch eine Runde aufs Ohr.“
„Und du bist nicht böse?“
“Nein.“
Berit stand auf. „Gut, dann komm.“
Zwei Stunden später legte Tessa den Bleistift beiseite und rieb sich ihren schmerzenden Nacken. Sie hatte erst die Runen einer Handfessel abgeschrieben und keine Ahnung, was die Inschrift besagte. Außer den bekannten, zum großen Futhark gehörenden Zeichen, gab es Runen, die sie nicht kannte. Sie konnte das eine oder andere Wort entziffern, aber keine Gesamtbedeutung erkennen. Es schien, als handelte es sich um eine eigene Sprache oder zumindest um einen neuen, bisher unbekannten Dialekt.
Sie beherrschte die beiden gängigen Runenalphabete, das jüngere war bis ins 19. Jahrhundert hinein in den ländlichen Gegenden Norwegens in Verwendung gewesen, obwohl sich auch im Norden von Europa die lateinische Schrift seit dem Mittelalter ausgebreitet hatte.
Runen stammten aus einer Zeit, als die Zeichen mittels Messer in Holzstücke eingeritzt wurden. Es waren einfache, gerade Linien, aus denen sich die Symbole zusammensetzten. Darüber hinaus existierten keine umfangreichen Schriftwerke, sondern vorwiegend Eigentumsangaben auf Truhen und Gegenständen des täglichen Gebrauchs. Die berühmten Skaldendichtungen wurden zunächst mündlich überliefert und im 13. Jahrhundert in lateinischer Schrift aufgeschrieben.
Ein längeres zusammenhängendes Schriftstück zu finden, das nur aus Runen bestand, wäre ebenso spektakulär wie die Entdeckung des verschollenen Bernsteinzimmers.
Tessa stand auf und streckte sich. Ihr Blick fiel aufs Fenster. Der Regen hatte aufgehört, stellenweise rissen die Wolken auseinander und ließen einen leuchtend blauen Himmel sehen. Tessas Magen knurrte vernehmlich. Ob sie unten etwas zu essen auftreiben konnte? Oder sollte sie
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