Stachel der Erinnerung
Gebräuche, die bisher unbekannt waren. Die Maske könnte einem Priester gehört haben, damit rundete sich das Bild auf einleuchtende Weise ab.
Zu dumm, dass die Ketten bei Berit lagen. Die eingeritzten Runen hatten sicher eine Bedeutung und könnten erste Hinweise geben. Sie zog das Handtuch mit der Maske näher und schlug den Frotteestoff auseinander. Das Material war beim Trocknen nachgedunkelt und Tessa mittlerweile sicher, dass es sich dabei um Leder handelte. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die glatte Oberfläche und drehte die Maske dann um. Die Rückseite war rau, wies aber keine Spuren auf, die Rückschlüsse auf eine Verwendung zuließen.
Tessa legte sie zurück auf das Handtuch und betrachtete sie nachdenklich. Die leeren Augenhöhlen erzeugten gemeinsam mit der schmalen länglichen Mundöffnung ein seltsam schmerzliches Bild, statt der zu erwartenden grauenhaften Fratze. Ehe sie sich ihrer Handlung bewusst wurde, schlug sie das Handtuch wieder über die Maske, um sie nicht länger ansehen zu müssen.
Dann wandte sie sich ihrem Laptop zu und versenkte sich in die Betrachtung der Fotos von der Fundstelle.
Wenig später kam Berit. Sie hatte bereits gefrühstückt und wollte mit Tessa den Tagesplan erstellen. „Sie haben schlechtes Wetter für die nächsten paar Tage vorhergesagt. Schon jetzt sieht es nach Regen aus.“
„Ich will die Maske zur Untersuchung nach Oslo bringen“, sagte Tessa. „Wenn es dir recht ist, organisiere ich auch eine Pressekonferenz für Ende des Monats.“
„Gute Idee. Ich glaube allerdings nicht, dass du heute noch einen Flug kriegst, es ist Freitag“, stellte Berit fest. „Aber ich bin sicher, Mister Dayton bucht dir mit Begeisterung einen Platz in der nächsten freien Maschine.“
„Nur, wenn es ein One Way Ticket ist.“ Tessa lächelte. „Ein seltsamer Kauz. Das Katzenfutter ist übrigens für Marder. Ich hab ihn gesehen, wie er sie auf der Terrasse fütterte.“
„Tatsächlich?“ Berit schien diese Tatsache nur marginal zu interessieren. „Vielleicht macht er Fellmützen draus.“
„Oder Handschuhe.“ Tessa klappte den Laptop zu. „Ich gehe hinunter, und frage ihn, wie es mit einem Flug aussieht.“
„Ich komme mit. Hendrik will auf jeden Fall zum Schiff raus fahren, auch wenn es regnet. Aber ich hab nicht die Absicht, bis zum Knie in Schlamm zu waten. Wenn du einen Flug kriegst, bringe ich dich zum Airport.“
Vor der Rezeption standen mehrere Leute samt Gepäck, die offensichtlich alle dabei waren, auszuchecken. Tessa wartete geduldig, bis sie an die Reihe kam und die milchglasfarbenen Augen sie ansahen. „Ich brauche einen Flug nach Bergen, je eher desto besser. Vielleicht ist sogar heute noch etwas frei.“ Sie versuchte liebenswürdig zu lächeln, aber er beachtete sie nicht weiter, sondern wandte sich dem Computer zu. „Ich glaube nicht, dass es für heute noch freie Plätze gibt. Es ist Freitag, alle aus der Gruppe vor Ihnen sind auf die Maschine gebucht.“
Er zog die Brauen zusammen, als er den Bildschirm betrachtete. „Yep, alles dicht.“ Er angelte sein Handy von einem Regal und tippte eine Nummer ein. „Hi, Svenja, ist für heute noch was frei nach Bergen?“ Er hörte zu und griff nach einem Block. „Macht es Sinn, jemanden auf standby zu setzen? Auf der Liste stehen schon 19 Passagiere? Okay, klar. Wann wäre etwas frei?“ Er notierte ein paar krakelige Wörter. „Gut. Danke, ich melde mich wieder.“
Er legte das Gerät beiseite. „Den nächsten freien Flug gibt es Mittwoch, darauf kann ich Sie buchen. Auf der Standby-Liste für Dienstag stehen sechs Passagiere, heute warten bereits 19 Leute.“
„Es gibt nur einen Flug pro Tag?“, erkundigte sich Tessa sicherheitshalber.
„Yep, Montag bis Freitag. Aber wenn sie unbedingt aufs Festland wollen, kann ich versuchen, ein Boot zu chartern. Das wäre groß genug für Sie alle.“ Er sah sie erwartungsvoll an.
„Danke, aber ich bin nicht seefest. Mittwoch also. Gut. Buchen Sie einen Platz für mich, für Mittwoch. Samt einem Anschlussflug nach Oslo.“ Sie verdrängte ihre Enttäuschung über die Wartezeit und wollte sich schon umdrehen, als sie seine Stimme zurückhielt. „Ab heute gehört Ihnen das Hotel ganz alleine. Nur mehr die Männer von Hendrik Solbergs Bergungstrupp und Sie beide. Alle anderen Gäste sind abgereist.“
Berit hob die Brauen. „Haben Sie es also tatsächlich geschafft, alle wegzuekeln.“
„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Ma’am.“
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