Stachel der Erinnerung
öffnete. „Aber möglicherweise sitzen wir jetzt ohnehin länger fest – das Unwetter dreht sich über der Insel ein. Das sagt zumindest der meteorologische Dienst in Oslo. Wir sollten uns ein Hobby zulegen.“ Er grinste. „Habe ich schon erwähnt, dass ich Backgammon spiele?“
Von Berit kam ein unwilliges Schnauben, aber Tessa fiel etwas ganz anderes ein. „Flugzeuge können doch landen und starten?“
„Keine Ahnung, das hab ich nicht gefragt. Die Maschine kommt mit einem Schiff, anders ist es nicht möglich.“
„Ich muss sofort telefonieren.“ Tessa sprang auf. „Ich wollte Mittwoch nach Bergen.“
„Dann begleite ich dich“, bot Hendrik selbstlos an.
Berit runzelte die Stirn. „Klar, bis zur Rezeption könnte sie sich ja verlaufen“, kommentierte sie trocken, aber keiner der beiden achtete auf sie.
Kaum, dass sie außer Sicht und Hörweite waren, nahm Hendrik Tessas Arm. „Heute gibt es keine Ausrede, heute bist du nicht müde oder sonst wie verhindert.“
„Ach, und woher willst du das wissen?“, fragte sie schnippisch, obwohl ihr Herz bis zum Hals klopfte.
Er sah sie mit einer Mischung aus Verzweiflung und Frustration an und zog sie an sich. „Weil du dir das hier ebenso sehr wünschst wie ich.“ Mit diesen Worten presste er seinen Mund auf ihre Lippen. Wie beim ersten Mal setzte der Rausch prompt ein und beseitigte all ihre klaren Gedanken bis auf den einen, der sie dazu drängte seinen Kuss mit der Leidenschaft zu erwidern, die in ihr brannte. Nicht aufhören, lass es nicht aufhören, mach, dass es niemals aufhört.
Er war es schließlich, der sich von ihr löste. „Wow, Mädchen, du machst mich ganz schwindlig.“ Sein Lächeln war warm und intim. „Wir sind uns also einig, was heute Abend betrifft?“
Tessa nickte langsam. Sprechen konnte sie nicht. Nicht, weil ihr der Kuss die Sprache geraubt hatte, sondern weil sie Angst hatte, die Worte laut zu hören.
Er nahm ihre Hand und ging mit ihr zum Rezeptionspult. Niemand zu sehen. Hendrik umrundete den Tresen und studierte die Telefonanlage. Dann wählte er eine Nummer und kurz darauf hörte Tessa, wie er sich nach dem Flugwetter erkundigte. „Das heißt also, bis auf Weiteres starten keine Maschinen. Gibt es eine Prognose für nächste Woche?“ Er hörte zu, dann nickte er. „Alles, klar, danke.“
Tessa sah ihn an. Sie wusste in diesem Moment nicht, welche Antwort sie sich wünschte. Aber da redete Hendrik ohnehin schon weiter. „Die Maschine, die gerade von Bergen kam, startet heute definitiv nicht mehr. Für Montag sieht es ebenfalls schlecht aus, und für Mittwoch machen sie keine Angaben. Wir sollen Sonntagabend noch mal anrufen.“ Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern wählte eine andere Nummer, um sich nach der benötigten Maschine zu erkundigen.
Tessa wandte sich ab und trat zum Fenster. Sah so aus, als würden sie heute tatsächlich keine Ausreden mehr retten. Nicht vor Hendrik und nicht vor sich selbst.
Noch während sie diesen philosophischen Gedanken nachhing, zerschnitten die Scheinwerfer eines Autos den dichten Regen. Es fuhr über den Parkplatz und näherte sich dem Eingang der Pension, vor dem es kurz stehen blieb, ehe es sich wieder entfernte.
Keine Minute später ging die Tür auf und eine Gestalt in einem langen dunklen Kapuzenmantel kämpfte sich mit zwei großen Reisetaschen ins Innere. Die Profilsohlen der flachen Stiefel hinterließen schmutzige Trittspuren auf den blank gebohnerten Dielen, als sie grußlos an Tessa vorbeischritt und die Taschen vor der Rezeption zu Boden plumpsen ließ. Mit der schwarz behandschuhten Hand schlug sie auf die Klingel und streifte dann die Kapuze zurück. Ein auftoupierter blauschwarzer Haarschopf wurde sichtbar.
Hendriks Gesichtsausdruck – er stand noch immer hinter der Rezeption – entgleiste dermaßen, dass Tessa neugierig zum Tresen hinüberging. Auf den ersten Blick dachte sie, dass es sich bei dem Neuankömmling wohl um die heimliche Schwester von Audrey Hepburn und Wynona Rider handeln musste. Riesige rehbraune Augen, dick mit schwarzem Kajal umrandet, in einem dreieckig geschnittenen Gesicht mit einem runden Kinn und einer schmalen Nase. Dann begann das elfenhafte Wesen zu sprechen und jede Ähnlichkeit mit Elfen verpuffte im Nichts. „Ich brauche ein Zimmer.“ Die Stimme konnte im Fall des Falles bestimmt Glas schneiden, jetzt schnitt sie schmerzhaft in jedes Trommelfell.
Hendrik starrte die Frau noch immer mit dem Hörer in der Hand an. Sie
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