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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
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warten, bis Berit auftauchte? Rein gefühlsmäßig schätzte sie ihre Chancen höher ein, wenn sie alleine ging. Mister Dayton behandelte alle mit der gleichen abweisenden Gleichgültigkeit, aber bei Berit schien er noch ein Quäntchen Feindseligkeit nachzulegen.
    Die Tische im Frühstücksraum waren abgeräumt, ebenso die Anrichte. Alles erschien auf sterile, unpersönliche Art sauber. Keine Blumen oder Obstkörbe, keine kleinen Vasen oder sonstiger Nippes, der ein behagliches Gefühl vermitteln konnte. Zweckmäßig, das war wohl die beste Bezeichnung.
    Sie trat in die Küche, in der ebenfalls alles blitzblank war. Nicht einmal in der Spüle lag eine schmutzige Tasse. Die Tür zur Terrasse stand offen. Tessa ging hinaus und blickte sich um. Niemand zu sehen. Rechts von ihr ertönten dumpfe Schläge. Sie folgte dem Geräusch um die Hausecke. Unter dem Vordach stand Nick Dayton und hackte Holz. Sein Hemd lag achtlos hingeworfen auf einem mit dunkelblauer Plane abgedeckten Holzstapel. Tessa blieb abwartend stehen, aber er bemerkte sie nicht. Das Erste, was ihr auffiel, war die Blässe seiner Haut, als ginge er überhaupt nie ins Freie. Das Zweite, sein geradezu massiver Körperbau. Hendrik mochte sich seine Muskeln im Fitnessstudio antrainieren, aber dieser Mann hier besaß von Natur aus eine Statur wie ein Schrank, ohne dabei ein Gramm Fett zu viel zu haben. Er bückte sich nach dem Holzscheit, das seine Axt gespalten hatte, und gab ihr damit Gelegenheit, seinen Rücken zu sehen. Von der Höhe des Brustkorbs zu seiner Hüfte zog sich eine sichelförmige Narbe, die im Bund seiner Jeans verschwand. Ein dünner, weißer Strich, der vor Jahren vermutlich rot gewesen war.
    Ehe sie diese Eindrücke verarbeiten konnte, drehte er sich um und starrte sie unter zusammengezogenen Augenbrauen an. Tessa fuhr zusammen, als hätte er sie mit der Hand in der Kasse erwischt. „Ich hab Hunger“, stammelte sie hastig.
    Er musterte sie von oben bis unten und sie fühlte, wie ihr plötzlich der Schweiß ausbrach, ohne dafür eine Erklärung zu haben.
    „Nehmen Sie sich aus dem Eiskasten, was Sie wollen“, sagte er mürrisch und griff nach dem nächsten Holzstück, das er mit einem präzisen Axthieb teilte.
    „Danke.“ Sie wandte sich ab und ging zurück in die Küche. Automatisch öffnete sie die Tür des Eiskastens. Erst als sie die Hand nach einer Plastikdose ausstreckte, merkte sie, dass sie zitterte. Langsam atmete sie durch. Dieser Mann besaß eine beängstigend aggressive Ausstrahlung – lief er noch dazu mit einer Axt durch die Landschaft, traute man ihm ohne Weiteres zu, dass er damit ganz andere Dinge in Stücke hacken wollte als simple Holzstücke. Kein Wunder, dass ihre Nerven zu flattern anfingen. Er war unheimlich. Bedrohlich. Feindselig.
    Und er fütterte im Morgengrauen hungrige Marder.
    „Gib mir auch was.“
    Tessa zuckte zusammen und hätte beinahe die Butterdose fallen lassen. „Himmel, hast du mich erschreckt!“ Sie drehte sich zu Berit um. „Was willst du? Cola, Wasser, O-Saft?“
    „Cola.“ Mit der Dose in der Hand lehnte sich Berit an die Spüle. „Keine Angst, dass dich Mister Dayton vierteilt, wenn du in seinen Vorräten wilderst?“
    Tessa bestrich eine Knäckebrotscheibe mit Butter und legte eine Scheibe Schinken drauf. „Nein. Ich hab seine Erlaubnis. Schließlich bin ich kein Selbstmörder.“ Sie fuhr fort, noch drei weitere Knäckebrotschreiben zu belegen. „Willst du zum Schiff rausfahren? Das Wetter ist besser geworden.“
    „Das hält sich nicht. In spätestens einer Stunde regnet es wieder. Ich sehe mir lieber die Ketten an. Wie weit bist du gekommen?“ Berit trank einen Schluck aus der Coladose.
    „Ich hab Abschriften von zwei Schellen gemacht. Aber die Übersetzung ist nicht so einfach. Es sind unbekannte Zeichen dabei.“
    „Echt? Das gibt’s doch nicht.“ Berit furchte die Stirn. „Setzen wir uns in den Aufenthaltsraum. Ich hole alles aus deinem Zimmer, du kannst inzwischen essen.“
    Gemeinsam saßen sie später an einem der beiden Fenster und versuchten, den Abschriften eine Bedeutung zu entlocken. Aber gleichgültig, ob sie die Runen waagrecht von rechts nach links lasen, von links nach rechts, von oben nach unten oder von unten nach oben – die Zeichen ergaben keinen Sinn. Sie entschlüsselten Wörter wie „voll“, „Kraft“, „Sonne“, „Hunger“, „Tod“, „Leben“, konnten sie aber in keinen Zusammenhang bringen.
    „Vielleicht ein Gedicht“, sagte Berit.

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