Stachel der Erinnerung
hungrig. Trotzdem ging sie zur vereinbarten Zeit hinunter in den Frühstücksraum, der jetzt als Restaurant diente, und setzte sich neben Berit.
Es herrschte aufgekratzte Fröhlichkeit, die auch nicht durch den Topf Kjøttboller in brauner Sauce zunichtegemacht wurde, den Nick Dayton wenig später samt einer Schüssel Reis auf den Tisch stellte.
Tessa nahm sich nur wenig und hatte selbst damit Mühe. Lustlos stocherte sie in der Mahlzeit und hörte den herumwirbelnden Stimmen zu, ohne zu registrieren, worum es ging. Ihr Blick wanderte zu Hendrik, der sich mit seinen Männern unterhielt. Er merkte, dass sie ihn ansah, und lächelte ihr zu. Aufmunternd und fragend zugleich.
Sie seufzte und wandte sich den Fleischbällchen auf ihrem Teller zu, die in hellbrauner Pampe vor sich hin dümpelten. Auch wenn sie gewollt hätte, heute Nacht war sie nicht in Form für Matratzensport.
„Was ist los?“, fragte Berit neben ihr. „Du bist so still.“
„Ich bin müde. Und ich werde zu Bett gehen.“ Sie schob den Teller zur Tischmitte. „Lass es dir von mir nicht verdrießen, wir sehen uns dann morgen.“
„Gut.“ Berit nickte und drückte ihr beruhigend die Hand.
Sie ging am Tisch entlang und winkte den anderen zu, aber Hendrik stand auf und folgte ihr. In der Lobby hatte er sie eingeholt. „Du willst doch nicht schon gehen?“
„Doch. Ich bin müde“, sagte sie mit leicht gereizter Stimme. „Nimm’s mir nicht übel, Hendrik. Aber heute gehe ich definitiv alleine ins Bett.“
„Schade.“ Er lächelte sie an. „Dann hoffe ich auf morgen?“
Sie seufzte. „Wie heißt es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt.“
„Alles klar.“ Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. „Dann schlaf gut und träum von mir. Und davon, was dir alles entgeht.“
Jetzt musste sie doch lachen. „Mach ich. Danke für den Tipp.“
„Immer wieder gerne.“ Er verbeugte sich theatralisch und ging zurück zu den anderen, während sich Tessa auf den Weg zu ihrem Zimmer machte.
Sie schlief tief und träumte gar nichts. Dafür war sie jedoch schon knapp nach sechs Uhr wach. Draußen war es bereits taghell, aber kühl, wie sie feststellte, als sie das Fenster öffnete. Die klare, frische Luft brachte sie dazu, in ihre Jogginghose zu schlüpfen und einen Pullover überzuziehen, um ein paar Kilometer zu laufen. In Hamburg drehte sie drei Mal die Woche vor dem Frühstück ihre Runde.
Der schmale Weg führte von der Pension querfeldein zum Waldrand. Dort teilte er sich, und Tessa folgte dem Pfad in den Kiefernwald hinein. Die Stille war Balsam für ihre Nerven und sie ließ ihre Gedanken einfach fließen.
Auch wenn sie auf dem Schiff keine Schätze entdeckt hatten, so waren die beiden Funde doch bemerkenswert. Sie konnte sich nicht erinnern, dass schon jemals eine Maske gefunden worden war. Ketten, Waffen und Fesseln gab es zwar mehr als genug, aber keine aus Silber. Sie würde eine Abschrift der Runen machen und die Maske zur genaueren Untersuchung nach Oslo bringen. Berit konnte die Dinge hier ein paar Tage ohne sie handhaben. Außerdem würde sie in Oslo alles für eine Pressekonferenz organisieren. Wenn sie sich richtig erinnerte, gab es fünf Mal die Woche einen Flug nach Bergen. Sie würde sich bei Nick Dayton erkundigen.
Ein paar Tage Abstand halfen ihr vermutlich auch, sich über Hendrik klar zu werden. Er zog sie an, das stand außer Frage, aber wie weit sie einer Affäre mit ihm gewachsen war … Berits Worte fielen ihr ein: „Er ist das Letzte, was du brauchst.“ Womöglich hatte Berit recht, allerdings waren Alternativen nicht vorhanden. Von einem Mann, der das war, was sie brauchte, ganz zu schweigen – im Fall, sie jemals in klare Worten fassen könnte, wie dieser Mann aussehen sollte.
Sie verließ den Wald wieder und lief den Weg zu der Pension zurück. Ihre Muskeln machten sich bemerkbar und ein dünner Schweißfilm überzog ihre Stirn. Trotzdem fühlte sie sich besser als die beiden Tage vorher und der Gedanke an eine heiße Dusche verstärkte das Wohlgefühl noch.
Sie verlangsamte ihre Schritte, um auszulaufen und blieb schließlich vor der Pension stehen, um sich zu dehnen. Gerade als sie fertig war, trat Nick Dayton auf die Terrasse. Er bemerkte sie nicht, da sie hinter den aufgestapelten Stühlen und zusammengeklappten Sonnenschirmen stand.
Am Rand der Terrasse hockte er sich nieder und leerte mit Hilfe einer Gabel etwas aus einer kleinen Schale auf den Boden. Dann machte er ein paar Schritte
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